Abgewogen
IBM legt seine Gesichtserkennungs-Ambitionen auf Eis und möchte sich nicht weiter am Racial Profiling beteiligen. Das ist lobenswert. Dennoch lässt der Zeitpunkt dieses Rückzugs eher ein situatives Statement als eine Grundsatzentscheidung vermuten. Denn dass KI ein ethisches Minenfeld ist, ist lange bekannt und hinreichend diskutiert.
Immer mit von der Partie ist das Argument, dass man nicht alles technisch Machbare umsetzen muss, wenn die Nachteile die Vorteile überwiegen. Dabei ist die Freiheit, nicht alles machen zu müssen, was man machen kann, älter als die Ethik selbst. Und die ist als philosophische Disziplin seit Aristoteles Bestandteil der abendländischen Kultur. Diese Freiheit ist zudem einer Voraussetzung der Demokratie, einer anderen Errungenschaft der griechischen Antike, die heute zumindest den meisten noch am Herzen liegt. Denn ohne sie wäre das Abwägen von Interessen, Konsequenzen, Chancen und Nachteilen schlicht nicht möglich.
Auch Big Blue hat nun abgewogen. Damit gibt der Konzern weniger ein derzeit nicht sonderlich lukratives Geschäftsfeld auf als vielmehr eine politische Option. Denn dass sich ein Zeichen gegen Diskriminierung auszahlen kann, hat Nike 2018 bewiesen – zu einer Zeit, als die Black-Lives-Matter-Bewegung weder den Schwung noch die Größe von heute hatte. Der zweiminütige Spot des Sportartikelherstellers rückte den Initiator des Kniefalls gegen Rassismus und Polizeigewalt, Colin Kaepernick, in den Mittelpunkt, und das, nachdem die Besitzer der NFL-Teams den Ausnahme-Quarterback aufgrund des wöchentlichen Kniens während der Nationalhymne aus der Liga komplimentiert hatten.
Das brachte Nike auf der einen Seite die Wut vieler weißer Fans ein, die zusätzlich zu den Kaepernick-Trikots ihre Nike-Schuhe verbrannten. Auf und von der anderen Seite erntete der Hersteller aber viel Applaus und viele Klicks: So schrieb der Spiegel, die 3,1 Millionen Views allein in den ersten 24 Stunden entsprächen nach Berechnung von Experten einer Gratiswerbung im Wert von rund 43 Millionen Dollar. Außerdem hatten die Gegner in ihren Schränken wieder Platz für neue Fan- und Sportartikel geschaffen. Manchmal gilt halt: Provocation sells.
IT-Firmen – unter ihnen IBM – hingegen neigen dazu, sich alle Optionen offen zu halten. Oft bedenken sie Demokraten und Republikaner mit Wahlkampfspenden, um bei jedem Wahlausgang den Fuß in der Tür zu haben. Und wie sehr derjenige, der das Geld gibt, den Takt bestimmt, zeigten wieder Colin Kaepernick und Nike: Ersteren beschimpfte der orange Mann im Weißen Haus als Hurensohn, über den Spot von Nike – Mieter in einer seiner New Yorker Immobilien – sagte er: „Sie zahlen viel Miete.“
Doch nun scheint zumindest für IBM-CEO Krishna die Zeit der Neutralität vorbei zu sein. Während der US-Präsident nach Law and Order schreit, wendet sich Krishna in seinem Brief an die Demokraten, unterstützt ihren Gesetzentwurf zur Polizeireform samt einer bundesweiten Datenbank über Polizeivergehen, fordert mehr Transparenz und Zurechenbarkeit der Polizeiarbeit und eine bessere Analyse tödlicher Einsätze sowie die Aufhebung der allgemeinen Immunitätsdoktrin für Strafverfolger. Auch andere rücken vom rechten Rand des weißen Amerika ab. Bleibt zu hoffen, dass dies ein gutes Zeichen ist – vor allem für Amerika.