iX 8/2020
S. 35
Markt + Trends
Konjunkturpaket

Reduzierte Mehrwertsteuer: ERP-Herausforderung

Soforthilfe

Michael Keller

Was einfach klingt, ist in der Praxis kompliziert: Das Corona-bedingte Umstellen der Mehrwertsteuer.

Wegen Corona hat die Bundesregierung das Muster durchbrochen, die Mehrwertsteuer immer nach oben anzupassen. Aufgrund des Corona-Steuerhilfegesetzes, einem Element des Konjunkturpakets, sinkt die Steuer nun von 19 auf 16 Prozent, beim ermäßigten Satz von 7 auf 5 Prozent. Zumindest zeitweise, denn diese Maßnahme gilt nur zwischen dem 01. Juli und dem 31. Dezember 2020. Das hat jedoch weitreichende Folgen. Insbesondere, wenn man den kurzen Umsetzungszeitraum betrachtet.

Zunächst einmal muss sich jedes Unternehmen einen Überblick darüber verschaffen, in welchen Systemen die Mehrwertsteuer überhaupt relevante Änderungen erfordert. Ein SAP-­Warenwirtschaftssystem ist ein klassischer Kandidat. Viele dort laufende Geschäftsprozesse verwenden Steuerkennzeichen, um die Mehrwertsteuer auszuweisen.

Die zahlreichen Module des Systems tauschen Daten untereinander aus und bedienen sich ausgiebig an den Geschäftsabläufen des jeweils anderen Moduls. Typisch ist zum Beispiel ein Vorgang wie das Erfassen einer Logistikrechnung. Der Vorgang beginnt im Modul ­Materialwirtschaft und zum ­Abschluss erzeugt das Modul Finanzwesen einen Beleg. Spätestens jetzt spielen Steuern eine gewichtige Rolle, weil sie in dedizierten Belegzeilen mit monetären Werten ausgewiesen werden. Hier zeigt sich, dass komplexe, modulübergreifende Geschäftsprozesse eine enge Zusammenarbeit aller Anwender erfordern. Am Anfang müssen sie das korrekte Steuerkennzeichen verwenden, damit am Ende die richtigen Werte erscheinen. Denn Korrekturen sind im Nachhinein schwierig.

Daher haben viele Unternehmen bei Bekanntwerden der anstehenden Steuersenkung – ohne den Beschluss vom 29. Juni 2020 abzuwarten – schnell Teams gebildet, die sich um das Thema kümmern. Sie sollen die betroffenen Geschäftsprozesse identifizieren, Lösungsvorschläge erarbeiten, Tests durchführen und die Produktivsetzung begleiten.

Dabei sind Anpassungen in verschiedenen Modulen erforderlich. Hier werden stellvertretend einige Arbeitsschritte aus der Materialwirtschaft vorgestellt. In diesem Modul spielen unterschiedliche Kategorien von Daten, nämlich die Stamm- und Bewegungsdaten, für die Steuern eine Rolle. Dazu gehören Einkaufsinfosätze, Bestellungen, Kontrakte und Lieferpläne. Es geht also um Beschaffungsprozesse, die in vielen Unternehmen tagtäglich hundertfach durchlaufen werden.

Automatisches Gutschriftverfahren

Sofern man die automatische Wareneingangsabrechnung (ERS-­Verfahren) einsetzt, ist eine Abrechnung zum Stichtag mit den bisherigen Steuerkennzeichen notwendig. Das ERS-­Verfahren basiert auf einer Vereinbarung zwischen Kunde und Lieferant: Der Lieferant sendet keine Rechnung, sondern der Kunde erstellt automatisch eine Gutschrift über die erhaltene Ware oder die erbrachte Dienstleistung, aufbauend auf den Daten in seinem ERP-System wie Mengen und Preise. Durch die voran genannte Anpassung von Stamm- und Bewegungsdaten zum 01. Juli 2020 profitiert dieses Verfahren von den geänderten Steuerkennzeichen.

Das funktioniert, wenn die Prozesse eine tagesaktuelle Trennung erlauben. Wer beispielsweise die Dienstleistungsabwicklung mit Leistungserfassungsblättern nutzt und diese Trennung nicht vollziehen kann, muss auf das Leistungsdatum achten, um das passende Steuerkennzeichen für das ERS-Verfahren zu ermitteln. Beispiel: Im Juli wird ein Leistungserfassungsblatt mit Leistungszeitraum Juni gebucht – entsprechend gilt die bisherige Mehrwertsteuer von 19 Prozent.

Eine solche Konstellation sieht der Standard zwar nicht direkt vor, sie lässt sich aber im System abbilden. Denn man kann es modifikationsfrei an vorgegebenen Stellen an die eigenen Bedürfnisse anpassen. In Zusammenarbeit zwischen Beratern, Entwicklern und Anwendern lässt sich so eine zeitabhängige Steuerkennzeichenermittlung implementieren. Das ist im Hinblick auf den 01. Januar 2021, wenn alles wieder rückgängig gemacht werden muss, sehr praktisch.

Überlappende Zeiträume

Die gleiche Herausforderung stellt sich auch bei der Abrechnung von Rechnungsplänen. Diese bilden wiederholt abzurechnende Beschaffungsvorgänge wie eine Miete ab. Das Mieten wird einmal „bestellt“ und anschließend etwa monatlich zum Ersten abgerechnet und überwiesen. Falls hier keine tagesaktuelle Trennung möglich ist, muss man bei abzurech­nenden Positionen, die vor dem 01. Juli beginnen und danach enden, auf das Steuerkennzeichen achten. Denn man befindet sich in zwei Zeiträumen mit zwei unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen. (jd@ix.de)

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