iX 6/2023
S. 3
Editorial

Fachkräftemangel – die selbst gemachte Dauerkrise

Sven Scharpe

Seit einer gefühlten Ewigkeit hört und liest man fast täglich vom Fachkräftemangel. Industrie und Wirtschaft überbieten sich in schöner Regelmäßigkeit mit Rufen und Appellen an die Politik nach Fachkräften aus dem Ausland, damit diese Dauerkrise endlich ein Ende findet. Warum sollte man auch selbst Zeit und Geld investieren, um den Nachwuchs auszubilden und zu qualifizieren, wenn man doch bereits gut ausgebildete Fachleute aus anderen Ländern abwerben kann? Ja, ohne Zuwanderung von Fachkräften kann es nicht gehen, dazu sind die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte von Wirtschaft und Politik zu groß. Aber auch der demografische Faktor trägt seinen Teil bei. Dennoch ist die Krise hausgemacht. Lange Zeit ging die Zahl der Ausbildungsplätze konstant zurück und IT-Abteilungen wurden personell ausgedünnt. Man hat es schlicht versäumt, die nächste Generation an Fachkräften heranzuziehen, und heute gibt es dafür die Quittung.

Aber selbst jetzt sperren sich noch viele Unternehmen, Quereinsteigern oder Berufseinsteigern mit und ohne Studium eine Chance zu geben. Wer kennt nicht die Stellenangebote, in denen eine Junior-Stelle zu besetzen ist, aber mindesten 5 Jahre Berufserfahrung und ein ganzer Katalog an Fähigkeiten gefordert werden? Die Einsteiger will man nicht haben, während erfahrene Fachkräfte wenig Lust verspüren, sich mit wöchentlichen Obstkörben statt einer angemessenen Bezahlung abspeisen zu lassen. Auch Leiharbeit ist in der IT-Branche kein Fremdwort. Dort findet man zwar mehr Kräfte für den Support als hoch spezialisierte Softwareentwickler, aber auch diese Fachleute sind angeblich stark nachgefragt. Da stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass Unternehmen Leiharbeiter für wenig Geld anstellen, statt die Leute langfristig in festen Beschäftigungsverhältnissen an sich zu binden? Es herrscht also tatsächlich ein Mangel an Fachkräften, vor allem an billigen Fachkräften.

Ist es da ein Wunder, dass es speziell die hoch qualifizierten IT-Kräfte ins Ausland zieht? So schließt sich der Kreis: Unsere benötigten Fachleute kehren Deutschland den Rücken und wir versuchen die Lücken mit Kräften aus dem Ausland zu füllen. Industrie und Wirtschaft sind längst in eine Abwärtsspirale geraten, die sich schneller dreht, als es vielen bewusst ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass es nach wie vor Unternehmen gibt, die Recruiting planlos nach dem Gießkannenprinzip betreiben oder bei denen sich Bewerbungsverfahren eine halbe Ewigkeit hinziehen?

Wir sollten Schritte unternehmen, dass unsere eigenen Experten im Land bleiben. Dazu gehört nicht nur eine im internationalen Vergleich konkurrenzfähige Bezahlung, sondern auch eine ausgewogene Work-Life-Balance. Mit ein wenig Mut könnte Deutschland hier Vorreiter werden und seinen Arbeitsmarkt nachhaltig attraktiv gestalten. Darüber hinaus muss eine Aktivierung vorhandener Potenziale erfolgen. Mitarbeiter müssen im großen Stil weiterqualifiziert werden. Und schließlich haben wir derzeit zweieinhalb Millionen Arbeitslose. Dass davon nicht jeder IT-Spezialist werden kann, ist klar. Aber ich weigere mich, mehr als 2,5 Millionen Menschen pauschal abzuschreiben und ihre eventuell vorhandenen Potenziale einfach liegenzulassen. Solange nichts von all dem Genannten umgesetzt wird, will ich das Gejammere vom Fachkräftemangel nicht mehr hören.

Sven Scharpe

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