MIT Technology Review 10/2016
S. 82
Meinung
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Illustration: Ping Zhu

Brauchen wir Chimären?

Die National Institutes of Health (NIH) der USA haben sich lange Zeit geweigert, Forschung an Mischwesen aus Mensch und Tier zu fördern. Nun fällt diese Beschränkung.

Noch längst kein Mensch

Klar ist es eine gruselige Vorstellung: Irgendwo in einem Laborkäfig steckt eine intelligente Maus und schreit: „Lasst mich hier raus!“ Doch die Idee, Tiere würden sich automatisch in Halbmenschen verwandeln, wenn man ihnen als Embryo menschliche Stammzellen zugibt, ist ziemlich weit hergeholt. Schließlich würde auch niemand den zahlreichen Labormäusen mit menschlichem Immunsystem irgendeine tiefer gehende Menschlichkeit zusprechen. Ein Schwein mit einer menschlichen Leber bleibt ein Schwein.

Natürlich gibt es hier auch ethische Grenzen. Sie wurden von den National Institutes of Health allerdings durchaus berücksichtigt. So sind Experimente mit Primaten und Gehirnen tabu. Dadurch dürfte es weitgehend ausgeschlossen sein, dass irgendein Versuchstier auch nur annähernd menschlich wird.

Kritiker argumentieren, dass man eben nicht genau wissen könne, wie sich die menschlichen Stammzellen in einem Tierembryo entwickeln. Mag ja sein, aber die Forschung ist genau dazu da, dies herauszufinden. Der menschliche Geist – und er ist es, der den Menschen zum Menschen macht – ist ein so komplexes Phänomen, dass er sich kaum zufällig, gewissermaßen per Unfall, im Labor entwickeln wird. Und solange das nicht der Fall ist, ist es keine massive ethische Grenzüberschreitung, etwas humane Biochemie in Tiere einzuschleusen.

Das eigentliche ethische Problem liegt ganz woanders: Deutschlandweit warten rund 10000 Menschen auf eine Organspende. Dem stehen nur knapp 900 Spenden im Jahr gegenüber, Tendenz rückläufig. Pro Tag sterben im Schnitt drei Menschen auf der Warteliste. Sie ließen sich in Zukunft etwa durch in Schweinen herangezogene Ersatzorgane retten – ohne schwierige Debatte darüber, ab wann ein menschlicher Organspender als tot gelten darf, und ohne Skandale bei der Vergabe der wenigen Spenderorgane. Auf diese Möglichkeit willentlich zu verzichten – das wäre wirklich unethisch.

Tiere mit Intellekt?

Vegan zu leben liegt im Trend. Immer mehr Menschen weigern sich, Nahrungsmittel tierischen Ursprungs zu sich zu nehmen. Sie wollen nicht einmal mehr Schuhe aus Leder tragen. Es geht darum, Tiere als Lebewesen ernst zu nehmen, statt in ihnen nur den Nutzen zu sehen. Vollkommen konträr zu diesem Standpunkt verläuft eine Debatte in den Kreisen amerikanischer Wissenschaftler. Schon lange werden Tiere vom Affen bis zur Maus für Forschungszwecke ausgebeutet. Aber nun geht es darum, sie zum Ersatzteillager 2.0 auszubauen. Künftig Spenderorgane aus menschlichen Stammzellen etwa in Schweinen heranzuziehen, scheint nicht zuletzt für das US-Militär eine attraktive Perspektive zu sein.

Vielleicht ist dieses Ansinnen auch die Ursache dafür, dass die National Institutes of Health ihr 2015 verkündetes Moratorium nun überdenken wollen. Im Vorjahr erklärte die oberste US-Gesundheitsbehörde, keine Forschung zu finanzieren, bei der menschliche Stammzellen in die Embryos von Wirbeltieren implantiert werden. Dieses soll nun wieder möglich sein. Weiterhin ausgeschlossen von der amtlichen Unterstützung bleiben allerdings menschliche Zellen in vorgeburtlichen Primatenembryos; Tiere mit menschlichen Ei- oder Samenzellen gehören ebenfalls zu den Tabus: Menschliche Nachkommen von tierischen Eltern soll es nicht geben.

Aber allein diese Gedankenspiele zeigen, auf welch brüchiges Eis sich die Wissenschaft begibt. Es stellt sich folgende Frage: Wenn ich das Schwein zu einem menschlichen Ersatzteillager mache, und in der Zukunft vielleicht neben dem Herzen noch Nieren und eine Leber aus menschlichen Zellen darin züchte – wie viel Mensch darf künftig in einem solchen Mischwesen stecken? Zumal das neu gegründete NIH-Komitee explizit Forschung hinsichtlich des Gehirns von Säugetieren, mit Ausnahme von Nagetieren, in seine Überlegungen mit einbeziehen soll. Damit sind wir endgültig an einem heiklen Punkt angelangt: Denn unterscheidet nicht gerade das Bewusstsein den Menschen vom Tier?

Der Mensch macht sich die Erde untertan, das ist klar. Aber wo sind die Grenzen? Uns sollte letztlich nicht jedes Mittel recht sein im Kampf, unser Leben zu verlängern.