MIT Technology Review 1/2017
S. 98
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Kollateralschaden

Was wäre, wenn das Internet komplett ausfallen würde?

Das hier ist illegal. Sie wissen das.“ Der Gefangene sieht müde aus. Maskierte Wachen haben ihn in die Videozelle geleitet. Auf den Displays sind verfremdete Gesichter zu sehen, keine Namen, nur generische Bezeichnungen: ein Richter, ein Vernehmungsbeamter, kein Verteidiger.

„Was werfen Sie mir überhaupt vor?“, fragt er. „Sie haben am Morgen des 23. Mai 2021 die nationale Sicherheit in fahrlässiger Weise schwer gefährdet“, entgegnet der Richter. Der Gefangene lacht kurz auf. „Das soll wohl ein Witz sein. Wir haben den größten Cyberangriff der Geschichte abgewehrt.“ Er schüttelt ungläubig den Kopf.

Ironie der Geschichte: Was er sagt, stimmt tatsächlich. „Interessierte Parteien“ – über die Rolle des russischen Geheimdienstes FSB streiten die Historiker noch immer – hatten massiv in die Bundestagswahl von 2017 eingegriffen. Just am Tag vor der Wahl fiel das Internet für kurze Zeit komplett aus, Smartphones waren tot, Kartenzahlungen funktionierten nicht, Online-Bestellungen wurden nicht verbucht.

Objektiv betrachtet waren die Folgen zwar wesentlich weniger gravierend als zunächst befürchtet – aber in der Gesellschaft machte sich eine nahezu apokalyptische Stimmung breit. Die Leute blieben lieber zu Hause, die Wahlbeteiligung sank dramatisch, und die AfD wurde stärkste Partei. Es war ein Warnschuss. Die Streitkräfte aller westlichen Industrieländer rüsteten ihre Cyberkapazitäten heimlich auf. Strategisches Ziel: Kritische Infrastrukturen wie das Finanzsystem, die Energie- und Wasserversorgung und Telekommunikation sind unbedingt zu schützen. Dazu förderte die Regierung die Entwicklung einer KI, die Angriffsmuster im Netz frühzeitig erkennt und Verteidigungsmaßnahmen einleiten kann, bevor der Angriff sich voll entfaltet.

Am 23. Mai 2021 zeigt das frisch installierte System, was es wirklich kann. Ein Angriff von 42 Botnetzen auf verschiedenste Sektoren in Deutschland beginnt. „Um 6 Uhr 59 sind bei uns sämtliche roten Lichter angegangen“, sagt der Gefangene. „Also habe ich die Verteidigung aktiviert.“

Die hat sofort gegriffen. 22 Minuten nach Beginn der ersten Attacken sind redundante lokale SIP-Server für das Telefonnetz online. Europäische Backup-Rechenzentren, die tief im schwedischen Granit vergraben sind, erwachen aus dem Schlaf und übernehmen den Zahlungsverkehr – eine Overlay-Struktur neuromorpher Prozessrechner stabilisiert die Energieversorgung. „Was wollen Sie denn?“, fragt der Gefangene. „Die Telefone laufen, die Kraftwerke sind online, die Bankautomaten spucken Geld aus. Funktioniert doch alles.“

„Sie haben eigenmächtig gehandelt“, sagt der Vernehmungsbeamte barsch. „Sie hätten auf eine Freigabe aus dem Lagezentrum warten müssen. Und jetzt verraten Sie uns endlich, wie wir das System wieder abschalten können!“ Der Gefangene schüttelt den Kopf. „Ich habe Ihnen doch schon gesagt, das geht nicht. Das ist ein verteiltes autonomes System. Jeder Versuch, den Server abzuschalten, wird als Angriff gewertet.“

Zwei Stunden später: Im Lagezentrum arbeitet die KI weiter. Sie erkennt, von wo die Angreifer zuschlagen, und isoliert diese Netze. Als das nicht mehr hilft, isoliert sie ihr eigenes Netz. Alle deutschen und europäischen Dienste funktionieren einwandfrei, aber YouTube, Facebook, Instagram und Twitter gehen offline.

Eine weitere Stunde später: Auf den Straßen von Berlin versammeln sich zahlreiche Jugendliche – die Stimmung ist gereizt. Die Polizei berichtet, in der Menge würden Vermummte ihre nutzlosen Smartphones mit Klebeband an Plastikflaschen befestigen. Sieht aus, als wollten sie die brennbaren Akkus zu Molotow-Cocktails umfunktionieren. WOLFGANG STIELER