MIT Technology Review 12/2017
S. 96
Fokus
Präzisionsmedizin

»Die Datengrundlage ist längst nicht so gut wie behauptet«

Der Mathematiker Gerd Antes kritisiert den Ansatz der Präzisionsmedizin gleich auf mehreren Ebenen: medizinisch, methodisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich.

TR: Durch die personalisierte Medizin sollen Patienten nur die Behandlung erhalten, die ihnen wirklich hilft. Was ist daran falsch?

Gerd Antes (68) ist Mathematiker und Co-Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums am Universitätsklinikum Freiburg. Seit 2000 ist er Gründungs- und Vorstandsmitglied des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Foto: Michael Bamberger

gerd antes: Dass Patienten nur erhalten, was ihnen auch wirklich hilft, ist seit jeher oberstes Ziel der Medizin. Die Realisierung ist jedoch oft weit davon entfernt. Präzisionsmedizin kann in der Tat zu behandelnde Patienten schärfer eingrenzen und damit erfolglose Therapieversuche reduzieren. Dazu gibt es ein paar beeindruckende Erfolge. So werden die Überlebenszeiten beim Melanom oder nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom enorm verbessert. Doch das sind Ausnahmen. Die grundsätzlich positive Entwicklung wird überlagert von einem Hype um Big Data, Digitalisierung und Maschinenlernen, die vor allem leere Versprechungen, Fehlinvestitionen und Irrwege erzeugen und zwangsläufig bei großer Ernüchterung enden werden. Denn Diagnosen sind oft falsch, Behandlungen schlagen nicht an oder schaden sogar. Big Data kann zwar neue Ideen erzeugen, jedoch nicht diese unvermeidlichen Fehler ausmerzen. Denn dass leistungsfähigere Rechner, mehr Daten und maschinelles Lernen nun schlagartig zu 100 Prozent Nutzen führen sollen, entbehrt jeder theoretischen, logischen und empirischen Grundlage.