Technology Review Special 2017
S. 90
Politik

NACHRUF

Stanislaw Petrow: Retter der Welt

Am 26. September 1983 hat Stanislaw Petrow den Ausbruch des Dritten Weltkriegs verhindert. Doch er hat nie viel Aufhebens um diese Geschichte gemacht.

Was wäre, wenn? Wenn Stanislaw Petrow, damals 44 Jahre alt und im Rang eines Oberstleutnants der sowjetischen Luftverteidigungskräfte, durch und durch ein Soldat gewesen wäre und kein Ingenieur? Durchdrungen von der Notwendigkeit von Disziplin, Befehl und Gehorsam? Vielleicht hätte ich diese Zeilen nie geschrieben, denn am 26. September 1983 stand die Welt haarscharf am Rand eines Atomkrieges. Und nur das nüchterne, skeptische Urteil von Petrow hat ihn verhindert.

Foto: Nikolai Ignatiev/ Alamy/ Mauritius

In seinem Buch „The Dead Hand“ schildert der Bestsellerautor David E. Hoffman die denkwürdige Nacht: An diesem Abend war Petrow als diensthabender Offizier der Basis Serpuchow-15 eingeteilt, einer geheimen Kommandozentrale außerhalb Moskaus; das sowjetische Militär wertete dort die Bilder von sieben Frühwarnsatelliten aus, die Abschussrampen und Militärbasen in den USA überwachten. Als Ingenieur hatte Petrow die Software mitentwickelt, mit der die Satellitenbilder vollautomatisch ausgewertet wurden. Hauptsächlich bestand seine Aufgabe darin, die Systeme zu warten, weiterzuentwickeln und Fehler zu beseitigen. „Technische Spezialisten“ wie er wurden von den hohen Militärs jedoch auch gern für die unbeliebten Nachtschichten in der Leitzentrale eingeteilt.

Die internationale Lage im September 1983 war angespannt. US-Präsident Ronald Reagan hatte die UdSSR als „Reich des Bösen“ bezeichnet. Und nur drei Wochen zuvor hatten die Sowjets einen Linienflug der Korean Air Lines abgeschossen, nachdem das Flugzeug versehentlich in den sowjetischen Luftraum eingedrungen war; 269 Menschen kamen dabei ums Leben.

Kurz nach Mitternacht am 26. September dann registrierte das System den Abschuss einer amerikanischen Rakete. Wenige Minuten später einen zweiten, dann einen dritten, vierten und fünften. Das Frühwarnsystem meldete mit „höchster Wahrscheinlichkeit“ einen Angriff der USA. Die Flugzeit von Interkontinentalraketen betrug etwa 25 Minuten. 25 Minuten, die der russischen Seite blieben, um einen Gegenangriff starten zu können. Ein Angriff mit nur fünf Raketen war recht unwahrscheinlich – die gängige Lehrmeinung war, dass der Feind versuchen würde, mit einem alles vernichtenden Überraschungsangriff zuzuschlagen. Aber was, wenn das ein Trick war? Eine neue Strategie?

Der wachhabende Offizier des russischen Generalstabs rief an und verlangte von Petrow eine Einschätzung. Nach fünf nervenaufreibenden Minuten entschied Petrow, dass die Abschussberichte wahrscheinlich ein Fehlalarm waren. Wie er später erklärte, war das eine Bauchentscheidung, bestenfalls eine „50:50“-Vermutung. Erst 17 unendlich lange Minuten später gab die Radarüberwachung ebenfalls Entwarnung. Hinterher stellte sich heraus, dass der Überwachungssatellit auf reflektiertes Sonnenlicht reagiert hatte.

Petrow quittierte 1984 den Dienst, um als ziviler Ingenieur weiterzuarbeiten, und geriet nahezu in Vergessenheit. Seine Rolle wurde erst öffentlich, als 1998 die Memoiren von General Juri Wotinzew, dem pensionierten Kommandanten der sowjetischen Raketenabwehr, veröffentlicht wurden. Der Mann, der von sich sagte, er habe „nur seinen Job gemacht“ und sei „einfach zur richtigen Zeit am richtigen Platz gewesen“, starb am 19. Mai 2017. WOLFGANG STIELER