Technology Review Special 2018
S. 94
Meinung
Bücher

Bücher des Jahres

Eine Mischung aus Sachbüchern und Romanen spiegelt die wichtigsten Technologie-Themen 2018 wider.

Digitalisierung

Aus Spaß wird Ernst

Adam Alter: „Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit“ Berlin Verlag, 368 Seiten, 22 Euro (E-Book 19,99 Euro)

Es war eines der großen Digitalthemen des Jahres: Wie Facebook, Instagram und Snapchat gerade für Kinder und Jugendliche eine verhängnisvolle Sogwirkung entfalten. Immer mehr ehemalige Entwickler und Investoren aus dem Silicon Valley kritisierten die manipulativen Methoden, mit denen die User dieser Dienste möglichst lange am Bildschirm gehalten werden. Mit „Unwiderstehlich“ hat Adam Alter, Sozialpsychologe an der New York University, im Frühjahr den notwendigen Hintergrund zu dieser wichtigen Debatte geliefert.

Dafür räumt der Autor zunächst ein Missverständnis aus: dass Sucht ausschließlich mit Drogen zu tun hat. „Wir neigen dazu, Sucht bestimmten Menschen mit bestimmten Anlagen zuzuschreiben – jenen, die wir als Süchtige abstempeln“, schreibt Alter. Junkies, Trinker oder Spielsüchtige gelten vielen immer noch als Menschen, deren Willenskraft nicht ausreicht, um Drogen zu widerstehen.

Doch das sei ein Trugschluss, warnt Alter. Jeder von uns kann süchtig werden – denn Sucht entstehe „aus einer Mischung aus Umwelteinflüssen und Umständen“. Und die „neuen Süchte“ umgeben uns überall, in Form von Gadgets und Software. Sie „führen dem Organsystem keine Chemikalien zu, produzieren aber dieselben Wirkungen, indem sie die Nutzer fesseln, weil sie so gut gemacht sind“.

Was genau dieses „gut gemacht“ heißt, erklärt Alter im zweiten Teil: Er erzählt vom Verhaltensforscher Michael Zeiler, der bei Fütterungsversuchen an Tauben herausfand, dass seine Versuchstiere „wie kleine gefiederte Spieler“ immer wieder auf Knöpfe in ihren Käfigen drückten, wenn ihre Aktion nur in 50 bis 70 Prozent der Fälle zu einer Futterausgabe führte. Er schildert, wie die litauische Psychologin Bluma Zeigarnik eher zufällig herausfand, warum sich der Kellner in einem kleinen Wiener Café die Bestellungen seiner Gäste „mit nahezu übermenschlicher Klarheit merken konnte“: Jede Order war für den Kellner ein kleiner Cliffhanger, der sich auflöste, sobald das richtige Essen beim richtigen Gast angekommen war. Und er lässt Essena O’Neill zu Wort kommen, ein junges Model aus Australien, das bereits eine halbe Million Follower auf Instagram hatte, als sie sich entschied, die Wahrheit hinter ihren Posts aufzudecken.

Das ist interessant und unterhaltsam, zeigt aber auch, dass rund um die Verhaltenssucht noch viele Fragen offen sind. Das gilt leider auch für den dritten Teil des Buches, in dem Alter unseren Umgang mit süchtig machender Technologie diskutiert. Eine funktionierende Lösung hat auch er nicht parat. Zwar haben einzelne Anbieter wie Apple mittlerweile auf die Diskussion reagiert und bieten dem Nutzer beispielsweise eine Übersicht darüber, wie viel Zeit er am Bildschirm verbracht hat. Doch ob ausgerechnet Technik hilft, um uns von zu viel Technik zu entwöhnen, darf bezweifelt werden.

Dabei müsste dringend ein Ausweg gefunden werden, denn die Entwicklung ist längst nicht ausgereizt. „Wenn zwischenmenschliche Beziehungen schon unter der bloßen Anwesenheit von Smartphones und Tablets leiden, wie werden sie dann nur die einbrechende Welle immersiver Virtual-Reality-Erlebnisse überstehen?“, fragt Alter. Wolfgang Stieler

Gentechnik

Mächtiges Werkzeug

Das Schneidewerkzeug Crispr, das Jennifer Doudna und Emmanuelle Charpentier der Welt im Jahr 2012 präsentierten, birgt ungeheures Potenzial. Mit der Genschere lässt sich jegliches Erbgut gezielt schneiden, um Gene außer Gefecht zu setzen oder zu reparieren. Das Gen-Editing erlaubt es der Menschheit wohl endgültig, die Evolution selbst in die Hand zu nehmen. So könnten genetisch verursachte Krankheiten schon vor oder nach einer Zeugung im Reagenzglas kuriert werden. Dieser Eingriff in die sogenannte Keimbahn war bisher allerdings vielerorts tabu. Doch mit den Möglichkeiten wachsen die Begehrlichkeiten: Ein chinesischer Forscher behauptet bereits, die ersten genveränderten Babys geschaffen zu haben (siehe Seite 54). Mit dem Buch nimmt die amerikanische Biochemikerin Doudna gemeinsam mit ihrem früheren Doktoranden Samuel Sternberg Stellung. Das Ergebnis ist ein leicht verständliches Werk über die Entwicklung der Genschere und deren Anwendungen, aber auch die ethische Dimension. Doudna und Sternberg wollen die Öffentlichkeit nicht nur für diese revolutionäre Entdeckung begeistern, sondern sie auch für eine Auseinandersetzung über den Umgang damit wappnen. INGE WÜNNENBERG

Jennifer Doudna, Samuel Sternberg: „Eingriff in die Evolution“. Springer-Verlag, 265 Seiten, 19,99 Euro

Datenvisualisierung

Die richtigen Sorgen

Daten umweht der Hauch von Kälte und Technokratie. Der inzwischen verstorbene Hans Rosling zeigt, wie sich eine sorgfältige Analyse mit menschlicher Wärme verbinden lässt. Als Arzt und Forscher war er in der halben Welt unterwegs, um etwa bei Seuchenausbrüchen zu helfen. Dabei stieß er immer wieder auf ein verstörendes Phänomen: Selbst hoch gebildete Menschen unterschätzen systematisch die Fortschritte bei Armut, Gesundheit und Bildung. Also begann er eine zweite Karriere als eine Art Datenpädagoge, setzte neue Maßstäbe bei der Datenvisualisierung und erntete auf YouTube Millionen Klicks.

Seine zentralen Botschaften: Tendenziell hat sich die Lage auf breiter Front verbessert, Lebensverhältnisse hängen weniger von Kontinent oder Kultur ab als vom Einkommen. Dabei betont Rosling regelmäßig, kein naiver Optimist zu sein. „Ich fordere Sie nicht dazu auf, sich keine Sorgen zu machen. Aber ich fordere Sie auf, sich über die richtigen Dinge Sorgen zu machen.“ Für ihn sind das: eine globale Pandemie, ein Finanzkollaps, ein Dritter Weltkrieg, Klimawandel und extreme Armut. Gregor Honsel

Hans Rosling mit Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling: „Factfulness“, Ullstein, 400 Seiten, 24 Euro (E-Book: 22,99 Euro)

Internet

Gute alte Zeit

Das Internet ist seit Jahrzehnten abgeschaltet. Reiner sammelt kaputte Laptops und bringt sie wieder zum Laufen. Dann entdeckt ein Freund eine verlassene Serverfarm in Holland. Die beiden ziehen los, um zu erkunden, was seit Jahrzehnten keiner mehr gesehen hat: Dateien aus dem Internet. Und bald wird das verfallene Gelände zum Ausgangspunkt einer neuen Jugendbewegung.

Eigentlich ist die Science-Fiction in diesem Roman aber nur ein Vehikel: „Serverland“ ist ein Zukunftsroman über die Gegenwart. Die Pläne, Aktionen und das Verhalten der Jugendlichen fassen wie im Zeitraffer Träume, Ideen und Diskussionen der Online-Kultur zusammen. Rieks schildert das präzise, lakonisch – und entlarvend. Wolfgang Stieler

Josefine Rieks: „Serverland“. Hanser Verlag, 176 Seiten, 18 Euro (E-Book 13,99 Euro)

Science-Fiction

Einfach weggehen?

Mitte des 21. Jahrhunderts sind ganze Landstriche zerstört, doch in den Megastädten der Erde wird weiter ein hektischer Turbokapitalismus zelebriert. Die Bewegung der Walkaways will sich damit nicht abfinden. Sie verlassen die Städte, ziehen in die Wildnis und errichten mithilfe von KI, Nano- und Biotechnik neue Gemeinschaften, in denen Geld und Macht keine Rolle mehr spielen. Das geht gut, bis die Walkaways eine Technik entdecken, mit deren Hilfe die Persönlichkeit eines Menschen in Computer hochgeladen werden kann. Von da an hilft alles Ausweichen nichts mehr – die Walkaways geraten ins Fadenkreuz superreicher Familienclans, die diese Technologie exklusiv für sich selber haben wollen.

Cory Doctorows Roman ist nicht nur eine spannend zu lesende Geschichte, sondern die literarische Simulation eines alten anarchistischen Traums. Doctorow nutzt sie, um die Stärken und Schwächen dieser Idee durchzuspielen. Wolfgang Stieler

Cory Doctorow: „Walkaway“. Heyne Verlag, 736 Seiten, 16,99 Euro (E-Book 13,99 Euro)

NACHRUF

Ursula K. Le Guin: Die Ausbrecherin

Die Science-Fiction-Autorin hatte keine Angst vor Konventionen und trat für Frauenrechte ein.

Mit Ursula K. Le Guin ist am 18. Januar 2018 nicht nur eine der Großen der fantastischen Literatur gestorben, sondern auch eine streitbare Schriftstellerin. Eine Frau, die sich Zeit ihres Lebens nicht um die Abgrenzung zwischen literarischen Genres scherte und genauso unerschrocken für die Rechte von Frauen eintrat.

Die US-Amerikanerin gehörte zur Generation der New Wave, einer Generation von Autoren, die das Genre der Science-Fiction in den 70er-Jahren formal und inhaltlich erneuern wollten, mit damals unerhörten, skandalträchtigen Themen wie Sex und Drogen, einer Erkundung des „Inner Space“, der eigenen Psyche, aber auch Romanen über alternative Gesellschaftsformen.

Foto: A. Pidgeon/Redferns/Getty Images

Bei vielen ihrer literarischen Experimente nahm Le Guin auch eine spezifisch feministische Perspektive ein. Die „Hainisch“-Trilogie etwa erzählt von einer Welt, in der die menschenähnlichen Bewohner den größten Teil der Zeit „ambisexuell“ sind und nur während einer kurzen Zeit männliche oder weibliche Eigenschaften annehmen. „Es muss nicht so sein, wie es ist“, schrieb Le Guin 2011 in ihrem Blog.

Bei einem ihrer letzten öffentlichen Auftritte – im Jahr 2014 erhielt sie eine Auszeichnung der National Book Foundation für ihr Lebenswerk – wurde Le Guin noch einmal ihrem Ruf als scharfe Kritikerin der Verhältnisse gerecht. „Bücher sind nicht nur Handelswaren“, sagte sie. „Wir leben im Kapitalismus, seine Macht scheint unwiderstehlich, aber so war es auch mit den heiligen Rechten von Königen. Jede Form von Macht, die Menschen über Menschen ausüben, kann durch Menschen verändert oder beseitigt werden. Widerstand und Veränderung beginnen oft in der Kunst – in der Literatur, unserer Form der Kunst. Autorinnen und Autoren müssen einen fairen Anteil von dem bekommen, was ihre Bücher einbringen. Aber unser wahrer Lohn besteht nicht in Geld. Er besteht in Freiheit.“ WOLFGANG STIELER

NACHRUF

Stan Lee: Von Super-Kräften und Super-Schwächen

Der Comic-Autor schuf die Superheldenwelt Marvel Universe – und war Referenzpunkt in Cyborg-Debatten.

Die Kindheit ist ein ganz eigenes Universum, und meines hieß Marvel Universe. Ich habe mich nie als Superheld verkleidet, aber ich war dankbar für das Gefühl, dass in jedem Superkräfte stecken könnten. Mit ihnen lassen sich Kindheitsprobleme schließlich gut bewältigen: Hulk half mir über die Wut hinweg, wenn andere mich zur Weißglut trieben. Thor rettete mich, wenn sich alle Welt gegen mich verschwor, Spider-Man war mein Kämpfer für das Gute. Und so brauchte ich eine Weile, bis mir auffiel, wie anfällig all diese Superkräfte waren: Spider-Mans Spinnensinn etwa sollte ihn vor Feinden warnen. Aber seltsamerweise warnte er viel zu spät, und Spider-Man war immer so verwirrt über die Warnung, dass er trotzdem keine Chance hatte.

Foto: Chad Batka/NYT/Laif

Heute würde man sagen: Stan Lees Kunst bestand darin, seinen Superhelden Schwächen mitzugeben und sie damit menschlicher zu machen. Damals aber sagte ich: wie sinnlos, diese Superkräfte. Als Kind kann man mit Schwächen seiner Helden wenig anfangen.

Mit dem Marvel Universe beschäftigte ich mich daher erst wieder, als erste Technologie-Pioniere reale Cyborgs versprachen, als die Diskussionen um genetische Veränderungen begann, um Menschen intelligenter oder muskulöser zu machen. Das Marvel Universe wurde zu einem Referenzpunkt, und zwar einem, der unabhängig von der reinen Machbarkeit zeigte: Jede Super-Kraft hat eine Super-Schwäche. So ist Stan Lees Botschaft doch noch angekommen. Robert Thielicke