MIT Technology Review 4/2018
S. 88
Meinung
Bücher

Die Freunde unter all den Feinden

Bakterien oder parasitäre Pilze genießen nicht unbedingt den besten Ruf. Ed Yong will ihr Image aufpolieren.

Ed Yong: „Winzige Gefährten. Wie Mikroben uns eine umfassendere Ansicht vom Leben vermitteln“ Verlag Antje Kunstmann, 448 Seiten, 28 Euro (E-Book 21,99 Euro)

Natürlich sind wahre Horrorgeschichten zu erwarten, wenn von Mikroben die Rede ist. Ein regelrechtes Schreckensszenario entwickelt Ed Yong in der Passage über den Pilz Batrachochytrium dendrobatidis, genannt Bd. Er setzt sich auf der Haut von Amphibien fest und hat bereits viele Arten aussterben lassen. Doch wie der britische Wissenschaftsjournalist in seinem Sachbuchdebüt „Winzige Gefährten“ zeigt, sind Mikroorganismen nicht nur das Leid der Tierwelt, sondern oft auch ihre Rettung. Yong erzählt zum Beispiel, wie US-Forscher Bakterien fanden, die Frösche unempfindlich gegen die tödliche Pilzinfektion machen.

Unzählige Storys von Mikrobiologen und ihrer immer faszinierenden Forschung versammelt der 1981 geborene Autor, selbst Biologe, in seinem Band – angefangen bei dem niederländischen Tuchhändler Antoni van Leeuwenhoek, der die „animalcules“ mit seinen selbst konstruierten Minilinsen entdeckte. Viel aufregender als die eloquent beschriebene Historie der Keime aber sind die aktuellen Entdeckungen. Dabei stehen vielfach medizinische Anwendungen im Mittelpunkt, denn die Gesundheit eines Menschen ist eng verknüpft mit den Mikroben, die in seinem Körper leben.

Ihr bekanntester Einfluss ist jener auf die Verdauung. Wenn zu Antibiotikabehandlungen gegriffen wird, kann eine lebensbedrohliche Diarrhö die Folge sein. Für Yong eine der hausgemachten Krankheiten der Industrieländer: „Sie ist die unbeabsichtigte Folge der Bestrebungen, Mikroorganismen unterschiedslos zu töten“, schreibt er. Als Gegenmaßnahme helfe eine Therapie, die der Autor selbst als „krass“ empfindet: die Stuhltransplantation. Die Pioniere nutzen tatsächlich menschlichen Kot, um den Darm wieder zu besiedeln. Inzwischen hat die Forschung glücklicherweise Fortschritte gemacht. Die kanadische Medizinerin Elaine Petrof hat eine Mikrobengemeinschaft zusammengestellt, die anstelle des Stuhls gegeben werden kann. Am Ende, so die Idee, steht idealerweise eine auf die konkrete Krankheit oder den individuellen Patienten abgestimmte Mischung.

Yong gelingt eine anschauliche Beschreibung des komplexen Wechselspiels zwischen Mikroorganismen und den anderen irdischen Lebewesen. So schildert er die Symbiose zwischen dem Zwergtintenfisch Euprymna scolopes und den Leuchtbakterien, die dieser beherbergt. Oder er beschreibt den Kampf gegen das Denguefieber, für den die übertragenden Mücken mit dem Wolbachia-Bakterium infiziert wurden. Nicht zuletzt spielt die synthetische Biologie eine Rolle, bei der Kleinstlebewesen modifiziert oder gar gebaut werden. Doch egal aus welchem Labor Yong berichtet: Für seine Beobachtungen nutzt er eine verblüffend pointierte bildhafte Sprache – und gewinnt viele Sympathien für seine Freunde, die Mikroben. INGE WÜNNENBERG

Internet

Clash der Kulturen

Joshua Cohen ist ein gescheiterter Autor, der sich mit einem Job in einem Buchladen und Fake-Rezensionen über Wasser hält. Aber am 11. September verliert er alles, was ihm am Herzen liegt: Seine Frau verlässt ihn, sein bisher einziges Buch floppt, der Buchladen liegt in Trümmern. Da erhält er den lukrativen Auftrag, die Memoiren eines Mannes zu schreiben, der genauso heißt wie er: Der „große Vorsitzende“ ist Gründer und Chef eines fiktiven Internetkonzerns – einer Mischung aus Google, Facebook, Microsoft und Apple. In einer wilden Mischung aus Interview, Blogeintrag, Selbstgespräch und Romanfragmenten kämpft Cohen sich durch die Biografie dieses Mannes und ringt um die Frage, welchen Platz ein Schriftsteller noch in einer Welt hat, deren Geschichten eigentlich aus dem Ergebnis von Suchmaschineneinträgen geschrieben werden. WOLFGANG STIELER

Joshua Cohen: „Buch der Zahlen“, Schöffling & Co, 752 Seiten, 32 Euro (E-Book 22,99 Euro)

Science-Fiction

Schöner Schein

Ende des 21. Jahrhunderts: Galahad Singh arbeitet als „Quästor“. Sein Job: verschwundene Personen wiederzufinden. Das Problem: Das allgegenwärtige „Holonet“ spielt allen Menschen permanent eine geschönte Version der Realität vor. Dazu kommt die Möglichkeit des „Mind Uploading“ – dabei wird das eigene Bewusstsein eine Zeit lang auf einen geklonten Wirtskörper übertragen. Singh wird beauftragt, die Computerexpertin Juliette Perotte aufzuspüren, die Verschlüsselungen für diese Uploads entwickelte. Doch je tiefer er in den Fall eintaucht, umso mehr zweifelt er daran, dass sein Gegenspieler ein Mensch ist. Das ist solide SF made in Germany: Der zweite Science-Fiction-Thriller von Tom Hillenbrand ist atmosphärisch nicht ganz so dicht wie „Drohnenland“, dafür aber auch nicht ganz so düster. WOLFGANG STIELER

Tom Hillenbrand: „Hologrammatica“, KiWi-Taschenbuch, 560 Seiten, 12 Euro (E-Book 9,99 Euro)

Klassiker neu gelesen

Das Alte Testament der Transhumanisten

Norbert Wieners „Cybernetics“ ist wahrlich keine leichte Lektüre. Denn das 1948 erstmals erschienene Buch fasst den damaligen Stand einer Wissenschaft zusammen, die gerade im Entstehen begriffen war: der Kybernetik. Doch die Mühe lohnt sich – zumindest streckenweise. Das Buch beginnt zwar mit einer für Nicht-Mathematiker sehr schwer verdaulichen Einführung in die Analyse von Zeitreihen und die mathematische Beschreibung von Systemen mit Rückkopplungsschleifen. Danach aber greift Wiener eine Menge Themen auf, die heute noch die Diskussion im Silicon Valley prägen: Maschinenethik etwa, die Lernfähigkeit künstlicher Nervensysteme oder Funktionsmechanismen der menschlichen Kognition. Die zweite Auflage von 1961 enthält zwei zusätzliche Abschnitte zu Hirnwellen und sich selbst reproduzierenden Maschinen.

Weil die Kybernetiker bei all ihren Theorien grundsätzlich keinen Unterschied zwischen Mensch, Tier und Maschine machen, liest sich „Cybernetics“ daher streckenweise wie eine Art Altes Testament der transhumanistischen Bewegung. Wiener ist zwar Mathematiker – was man dem Text immer wieder anmerkt –, aber dabei erstaunlich breit gebildet. Er ist eine Art moderner Universalgelehrter mit Interesse an offenbar fast allem: Quantenmechanik, Biologie, Medizin, Psychologie, Physik – und auch Politik. Und er wirft zwar ohne jegliche Hemmungen mit seiner Bildung nur so um sich, offenbart dabei aber auch ein fantastisches Gespür für interdisziplinäre Zusammenhänge.

Das Kapitel über „Kommunikation und Gesellschaft“ beispielsweise beginnt mit einer polemischen Abrechnung mit dem – seiner Auffassung nach falschen – Glauben, dass der freie Markt schon alles regeln werde. Da Kommunikation ein entscheidendes Element des gesellschaftlichen Zusammenhalts darstelle, sei es äußerst gefährlich, die Instrumente der Massenkommunikation nur dem menschlichen Gewinnstreben zu überlassen. Gleichzeitig warnte Wiener auch vor dem Irrglauben, man müsse die Methoden der Natur- und Ingenieurswissenschaften nur auf die Gesellschaft anwenden, um deren Probleme zu lösen. Das war 1948 – und damit 70 Jahre vor dem Streit um die Macht des Silicon Valley und dessen Weltverbesserungsanspruch. Wolfgang Stieler

Norbert Wiener, Cybernetics: Or Control and Communication in the Animal and the Machine, 212 Seiten, MIT University Press, https://goo.gl/p33WpP