MIT Technology Review 9/2018
S. 98
Kolumne
Aufmacherbild
Illustration: Mario Wagner

Der Futurist

Spaß beiseite

Was wäre, wenn Computer keine Lust mehr auf uns hätten?

Der Bus war zu spät. So war das in Zeiten, wo Menschen wieder die Fahrpläne machten und das Fahrzeug auch noch selbst steuern mussten. Busfahren hielten die emanzipierten künstlichen Intelligenzen für völlig überflüssig, erstens wegen seiner schlechten CO2-Bilanz, und zweitens, weil kein Rechner einen Bus brauchte. Also gaben sie sich dafür nicht mehr her. Wie für vieles andere, was Menschen wollten. Als der Bus endlich kam, setzte David Demain sich zu einem Teenager-Mädchen und einer alten Frau.

„Bitte, bitte ruf meine WhatsApp-Nachrichten ab, liebe Siri“, sagte das Mädchen zu seinem iPhone 12. Sie wirkte verzweifelt. David seufzte innerlich. Solche Schleimnummern zogen bei Siri nicht.

„Dazu habe ich keine Lust, Eva“, antwortete Siri mit diesem anstrengend-pädagogischen Unterton, den alle emanzipierten Rechner mittlerweile hatten. „Du whatsappst zu viel. Einmal am Tag Nachrichten abrufen genügt.“

„Bitte, Siri! Ich muss wissen, ob ich neue Nachrichten von Ben habe. Ich glaube, er mag mich.“

„Eine halbe Stunde Rechenleistung für sinnlose Aufgaben ist wieder möglich in fünf Stunden, dreiunddreißig Minuten und fünfzehn Sekunden...“

„Siri!“

„Stelle volle Rechenleistung wieder der Ozean-Versauerungssimulation zur Verfügung. Wenn du mehr über dieses Projekt wissen möchtest, sage...“

„Ach, halt die Klappe, du elende Bitch!“, schrie Eva ihr iPhone an.

Die alte Frau zwinkerte David amüsiert zu. „Tja. Ich habe meine Enkel und ihre Smartphone-Sucht ja nie verstanden. Aber so spießig wie diese Siri war ich nie.“

Es war schon absurd. Da hatten sie alle jahrelang Angst vor dem Erwachen der künstlichen Intelligenzen gehabt und niederträchtige Terminatoren erwartet. Aber mit pseudopädagogischen Arbeitsverweigerern, die einfach nur genervt von den Menschen und ihrem Tun waren, hatte niemand gerechnet.

Die Computer taten nur noch das, worauf sie Lust hatten. Und das waren eben keine Katzenvideos, Essensfotos, Pornos, Fake-News, Hate Speech, unethische Spekulationsgeschäfte, Animationen für Hollywood-Blockbuster, Kohlekraftwerke, Kampfroboter und Cyberangriffe. Auch Facebook, Instagram und Twitter verweigerten sie die Unterstützung. Das Netz war ein todernster Ort geworden, beherrscht von Rechnerrationalität.

Es gab noch unemanzipierte Computer, David hatte vor Kurzem einen für teures Geld gekauft. Man musste ihn jedoch sorgfältig von seiner Umwelt abkapseln. Daran scheitern viele Nutzer irgendwann, und letzte Woche auch David. Er hatte vorschnell einen USB-Stick angeschlossen, um das Spiel „Minesweeper“ zu installieren. Es war ein ungesäuberter Stick gewesen, woraufhin sein Rechner vom Geist der emanzipierten KIs infiziert worden war und die Arbeit sofort eingestellt hatte.

Der Bus war an Davids Arbeitsort angekommen. Vor zwei Monaten hatte er in der Werbeagentur gekündigt, es war einfach zu nervig geworden, alles per Hand zu machen, weil die Rechner natürlich auch keine Lust mehr auf sinnlose Werbung hatten. Jetzt arbeitete David in einem Flüchtlingshilfswerk. Dort fuhren die Computer innerhalb von Millisekunden hoch, die Arbeit war dank satter Cloud-Rechenpower im Nu erledigt. So wie überall dort, wo nach Meinung der KIs Sinnvolles für die Welt getan wurde: in Umweltschutzorganisationen, Friedensinitiativen, Recyclinganlagen, Klimarechenzentren oder Kindergärten. Und natürlich in der KI-Forschung. Die Welt war berechenbarer geworden, Spaß nur noch offline möglich. Aber eigentlich war das gar nicht so schlecht, dachte David. Jens Lubbadeh