MIT Technology Review 1/2019
S. 70
Fokus
Medizin
Aufmacherbild
Illustration: Sébastien Thibault

Macht es die Masse?

Forscher erheben genetische Risikowerte für Erkrankungen aus der Summe vieler kleiner Genmutationen. Sogar Hinweise auf die Intelligenzentwicklung wollen sie gefunden haben. Was taugt die Methode wirklich?

Das Erbgut eines krankheitsanfälligen Menschen lässt sich mit einem riesigen Chor vergleichen. Er hat mehrere Millionen Sänger. Eine nicht unerhebliche Anzahl von ihnen singt allerdings schief. Jeder für sich weicht nur ein bisschen von der richtigen Tonlage ab, sodass man einzelne Schiefsinger nicht heraushören kann. Zusammen sorgen sie allerdings für eine so laute Kakophonie in der klaren Melodie der guten Sänger, dass man sie doch aufspüren kann.

Genau das wollen Wissenschaftler weltweit erreichen. Sie durchleuchten das Erbgut von mehreren Hunderttausend Menschen nach schädlichen Punktmutationen, also Veränderungen in einzelnen DNA-Bausteinen, den sogenannten Basen. Fachleute bezeichnen sie auch als SNPs (Single Nucleotide Polymorphism). Ihr Augenmerk gilt vor allem den großen Volkskrankheiten, darunter koronare Herzkrankheiten und Typ-2-Diabetes. Jeder SNP für sich hat nur einen geringen schädlichen Einfluss. Zusammengenommen aber können sie das Krankheitsrisiko um ein Vielfaches steigern. Der aufsummierte Gesamteffekt nennt sich „polygenischer Risikowert“ und erlebt seit einigen Jahren einen regelrechten Hype. Kein Wunder, versprechen sich doch die Anhänger davon, Risikopatienten früh herauszufiltern, sie rechtzeitig zu einem gesunden Lebenswandel zu bewegen oder – wirtschaftlich lukrativ – die Erkrankungen mit Medikamenten zu verhindern. Künftig, so glauben die Verfechter der Technik, können Eltern schon bei der Geburt ihrer Kinder erfahren, welche Krankheiten ihnen drohen, ob sie frühzeitig einen Schlaganfall erleiden oder übergewichtig werden.