MIT Technology Review 2/2019
S. 86
Meinung

Mehr Tempo in der Weiterbildung!

Der Dienstleistungsbereich digitalisiert und automatisiert sich. Aber oft drehen sich die Überlegungen vor allem um neue, produktivitätssteigernde Technologien, weniger um die Weiterbildung der Mitarbeiter. Das muss sich ändern.

Im Jahr 2017 gab es fast 33 Millionen Erwerbstätige im gesamten Dienstleistungsbereich in Deutschland, so viel wie noch nie. Die Zahl hat sich seit 1970 mehr als verdoppelt. Doch die Branche steht unter verstärktem Veränderungsdruck durch die Digitalisierung.

Derzeit wird die Diskussion vor allem durch das Aufkommen neuer, produktivitätssteigernder Technologien beherrscht. Weniger im Zentrum steht, wie sich die Digitalisierung in der Wertschöpfung selbst und insbesondere auf die Mitarbeiter bei den Dienstleistern auswirkt. Dienstleistungen werden perspektivisch nicht mehr physisch, sondern digital angeboten und erbracht.

Nach einer aktuellen Studie des Weltwirtschaftsforums werden ab 2022 dann 52 Prozent der Arbeitsstunden durch Maschinen verrichtet. Gleichzeitig entstehen neue Jobs, darunter KI- und Machine-Learning-Spezialisten, Big-Data- und Prozessautomatisierungsexperten, User-Experience- und Mensch-Maschine-Interaktion-Designer. Doch zeigen verschiedene Reports eine Lücke in der Aus- und Weiterbildung auf, Angebot und Nachfrage von sogenannten „digitalen Talenten“ klaffen auseinander. Unternehmen benötigen künftig verstärkt soziale, funktionsübergreifende und auch fachübergreifende interkulturelle und technische Skills, wie etwa emotionale Intelligenz oder die Fähigkeit zum Lösen komplexer Probleme, die so am Arbeitsmarkt nicht vorhanden sind. Dienstleistungsorientierung plus Technik wird zur Schlüsselkompetenz.

Als Querschnittsbranche besonders von der Digitalisierung betroffen ist die Versicherungswirtschaft. Lange galt der reine „Tarif“ als das „Produkt“. Heute geht es mehr um die sogenannte Customer Journey im Sinne eines umfassenden Kundenerlebnisses in Betrieb, Schaden, Leistung und Assistance-Leistungen. Damit müssen aber auch die Tätigkeiten in der Wertschöpfungskette auf den Prüfstand gestellt werden.

Die Führungskräfte wissen um die Herausforderungen: Laut einer aktuellen Befragung unter Versicherungsgesellschaften im deutschsprachigen Raum glauben 71 Prozent der Entscheider, dass die Digitalisierung große Auswirkungen auf ihr Unternehmen hat. Große Potenziale sehen sie insbesondere durch Automatisierung der Workflows, Robotics und den Einsatz künstlicher Intelligenz. Als besonders betroffen werden Berufsbilder in der Administration wie Buchhaltung, Accounting oder Finanzanalyse eingeschätzt, aber auch in Vertrieb und Beratung werden virtuelle Assistenten und Robo Advisors zunehmend relevant.

Dennoch gibt es für Arbeitnehmer noch immer zu wenig Angebote, um den technologischen Wandel zu meistern. Bei zielgerichteten, fortlaufenden Lernaktivitäten der erwachsenen Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren liegt Deutschland etwa 25 Prozent unter dem EU-Durchschnitt. Dabei wird lebenslanges Lernen wichtiger denn je, da die Halbwertszeit der Fähigkeiten stetig sinkt.

Woran liegt das? Ein Problem ist, dass die Prozesse bei den Bildungsanbietern nicht zuletzt aufgrund regulatorischer Anforderungen und Akkreditierungsverfahren zu lange dauern und der Transfer von Wissen nicht der Veränderungsgeschwindigkeit der Digitalisierung entspricht. Auch gewinnen sowohl die nachfragenden Unternehmen als auch die Bildungsanbieter erst langsam Klarheit darüber, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten in Zukunft überhaupt relevant werden.

Unternehmen müssen ihre Bedarfe daher stärker einfordern und entweder eigene Programme oder Ausbildungsangebote von Berufsverbänden nutzen, die Zusammenarbeit mit Hochschulen verstärken oder sich in der Kooperation mit Start-ups engagieren. Digitalkompetenz bedeutet dabei nicht nur, die notwendigen Anforderungsprofile zu entwickeln, sondern vor allem die Menschen – von Management bis Mitarbeiter – auf die Digitalisierung vorzubereiten: Basis ist zunächst ein tiefgreifendes Verständnis für die Möglichkeiten und Limitationen der neuen Technologien, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.