MIT Technology Review 2/2019
S. 28
Horizonte
Sprachanalyse

Was die Stimme über uns verrät

Welche Charakterzüge haben wir? Was fühlen wir, unter welchen Krankheiten leiden wir? Unsere Stimme und unsere Art zu sprechen enthüllen überraschend viel. Nun nutzen erste Unternehmen die Eingangstür in unser Innerstes.

Julia Hirschberg hat eine künstliche Intelligenz entwickelt, die Lügner überführen kann – weit besser als ein Mensch. Foto: Jeffrey Schifman/Columbia Engineering

Wer bin ich? Der Sprachcomputer von Precire soll es herausfinden und beginnt ein harmlos wirkendes Gespräch. Er ist außerordentlich neugierig. „Wie war Ihr letzter Urlaub?“, „Wie verläuft ein typischer Sonntag bei Ihnen?“ Ich bemühe mich, jede Frage recht ausführlich zu beantworten, denn ich weiß: Er will 15 Minuten Sprachmaterial von mir, um meinem künftigen Chef zu sagen, was für ein Typ ich bin.

Meinem künftigen Chef? Ich suche keinen Job, ich bin Freiberuflerin. Aber aus professionellem Interesse teste ich das Bewerbungsverfahren der Zukunft. Bevor Arbeitgeber neue Mitarbeiter einstellen, wollen sie möglichst genau wissen, auf wen sie sich einlassen. Ist die Bewerberin eher engagiert? Belastbar? Stur? Arbeitet sie effizient? Ist sie teamfähig? Verträgt sie Kritik? Um das zu erfahren, ist das Bewerbungsgespräch eine zu kurze und oberflächliche Gelegenheit. Es gerät allzu oft zum bloßen Schaulaufen, und wer sich gut verkaufen kann, ist klar im Vorteil.

Precire, ein deutsches Unternehmen aus Aachen, will unter die Oberfläche schauen. Manche sagen auch: Es geht unter die Haut. Denn das Versprechen ist so groß wie unheimlich. Precire will erkannt haben, dass wir unser Innerstes auf der Zunge tragen – und einen Weg gefunden haben, es abzulesen. Seit vielen Jahren gibt es Untersuchungen dazu, dass sich Depressionen allein aus der Stimme eines Menschen erkennen lassen. Doch die neueste Forschung geht weit darüber hinaus: Die Persönlichkeit lässt sich aus unserer Sprache entschlüsseln, Emotionen und Eigenschaften eines Menschen, verspricht Precire.