MIT Technology Review 4/2019
S. 78
TR Mondo

tr mondo

China

Talentsuche im Erbgut

Chinesische Schüler schreiben eine Prüfung. Foto: VCG/Getty Images

In Shenzhen müssen sogar Kindergartenkinder pauken. Man kann es an ihren mit Arbeitsmappen beladenen Rucksäcken erkennen, mit denen die Kleinen um acht Uhr morgens durch das Schultor gehen und erst um fünf Uhr nachmittags wieder herauskommen. Viele haben danach auch noch Tanzkurse, Klavierunterricht, Englischnachhilfe und Kung-Fu-Training. Sogar nach dem Abendessen ist noch nicht Schluss. Dann müssen sich die Kinder an die Hausaufgaben machen. Sie haben Glück, wenn sie um zehn Uhr ins Bett kommen.

Aus Angst, dass ihre Kinder hinter ihren Altersgenossen zurückfallen und später schlechtere Chancen haben könnten, lassen chinesische Eltern nichts unversucht, ihrem Nachwuchs einen Vorsprung zu verschaffen. Das geht inzwischen sogar so weit, dass sie sich an Gentest-Unternehmen wenden, die versprechen, sie könnten versteckte Talente von Kindern in deren DNA aufspüren.

In den USA bieten Unternehmen wie Orig3n schon länger „Child Development“-Tests für Gene an, die mit Spracherwerb, Mathematik und dem absoluten Gehör in Verbindung gebracht werden. Aber in China wächst dieser Zweig der Gentechnik-Industrie besonders schnell. Ein Hauptakteur ist die China Bioengineering Technology Group, kurz CBT Gene. Die Klinik liegt im 14. Stock eines Hochhauses in Shenzhen, ihre Räume sind mit glitzernder Goldtapete ausgekleidet. Begonnen hat sie mit plastischer Chirurgie und traditioneller chinesischer Medizin, inzwischen bietet sie auch Talenttests an, die angeblich mehr als 200 genetische Indikatoren einbeziehen. Diese sollen neben möglichen Erbkrankheiten auch Hinweise auf musikalische, mathematische, Lese- und Erinnerungsfähigkeiten geben, körperliche Talente vorhersagen und nicht zuletzt Persönlichkeitsmerkmale wie Schüchternheit, Introversion und Extroversion aufspüren.

Die Geschäfte laufen gut: „Pro Woche wollen ein- bis zweihundert Eltern ihre Kinder testen lassen. Die meisten Eltern wählen den vollständigen Test, um ihre Kinder besser zu verstehen“, erzählt ein Vertriebsmitarbeiter. Eine komplette Genomsequenzierung schlägt mit rund 4500 Dollar zu Buche, eine vollständige Testbatterie auf Erbkrankheiten und Talente mit 2500 Dollar. Der einfachste Test mit nur zehn Talentindikatoren kostet nur 160 US-Dollar.

Das Interesse an DNA-Tests fachen Pädagogen an, die mit der Industrie verbandelt sind. So macht etwa Chen Tiecheng, Schulleiter der Xuefa Middle School, viel Werbung für das, was er „Glücksausbildung“ nennt. Statt unflexiblem Auswendiglernen, das vielleicht nicht zur Persönlichkeit des Kindes passt, sollen seine angeborenen Talente gefördert werden. Und Gentests würden verraten, welche dies sind. Chen zufolge „bieten die Tests die Möglichkeit, Talente leichter zu finden“. Allerdings räumt er ein, dass „die wissenschaftlichen Grundlagen möglicherweise nicht ganz korrekt sind“.

„Nicht ganz korrekt“ dürfte noch untertrieben sein. Tatsächlich „gibt es bei den meisten dieser genetischen Talenttests keine ausreichenden wissenschaftlichen Beweise“, kritisiert Chen Gang, Mitbegründer und Geschäftsführer des Ahnenanalyse-Unternehmens WeGene. „Wir können die komplizierte Beziehung zwischen dem Genom und vielen Merkmalen wie IQ-Wert, Musik und sportlichen Fähigkeiten immer noch nicht erklären.“ Chen befürchtet deshalb, dass die Talenttests dem Ruf der ganzen Branche schaden könnten.

Jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Denn gleichzeitig glaubt Cheng, dass „wir aufgrund der raschen Entwicklung genomischer Techniken und auf KI basierenden Datenanalysemethoden in naher Zukunft ein besseres Verständnis von Talent haben werden“. Deshalb hat auch er das Genom seines Sohnes sequenzieren lassen. „Wenn meine Frau und ich Fachartikel über Genomik und Merkmale finden, vergleichen wir sie mit dem Genom unseres Kindes“, sagt Chen. „Aber wir werden ihm nicht sagen, dass er seine Interessen passend zu seiner DNA wählen muss.“

MICHAEL STANDAERT

VENEZUELA

„Mit Bitcoins habe ich wenigstens eine Chance!“

Carlos Hernández vertraut Bitcoins statt Bolívars. Foto: Privat

Der Ökonom Carlos Hernández (26) lebt in Caracas und schreibt als freier Journalist viel für US-Medien. Würde er jedoch seine Ersparnisse in der Lokalwährung Bolívar behalten, wäre das angesichts der galoppierenden Inflation „finanzieller Selbstmord“. Deshalb versucht er seine Auftraggeber zu überzeugen, ihn in Bitcoins zu bezahlen. Das Interview haben wir per E-Mail geführt, weil häufige Stromausfälle ein Telefonat unmöglich gemacht haben.

TR: Wie kommt man in Venezuela derzeit an Bargeld?

Carlos Hernández: Der Zugang zu Bargeld ist seit Jahren ein Problem. Die Banknote mit dem höchsten Wert von 500 Bolívar ist gerade mal 15 US-Cent wert. Allerdings funktionieren Geldautomaten meist nicht, und kein Geschäft akzeptiert noch kleine Banknoten. Meine Debitkarte wiederum funktioniert in den Supermärkten oft nicht. Ich muss also nicht nur viele Läden aufsuchen, um Produkte wie Kaffee oder Milch zu finden, sondern auch einen finden, in dem ich bezahlen kann.

Warum ist die Lage mit Bitcoins besser?

So habe ich wenigstens eine Chance, in der Konkurrenz um die immer knapper werdenden Güter bestehen zu können.

Was muss man tun, um Bitcoins in Bolívars umzutauschen?

Ich habe meine Bitcoins bei Localbitcoins.com, das ist eine Peer-to-Peer-Börse, die Nutzer machen also untereinander Geschäfte, so ähnlich wie bei eBay. Habe ich jemanden gefunden, der bei derselben Bank ist wie ich – damit die Überweisung sofort durchgeht –, mache ich ein Angebot. Wenn der Käufer schnell reagiert, dauert das Ganze nur fünf Minuten.

Und wie kommen Sie an die Bitcoins?

Am einfachsten ist es, wenn ich einen Arbeitgeber davon überzeugen kann, mich in Bitcoins – oder jeder anderen Kryptowährung – zu bezahlen. Denn venezolanische Banken nehmen nur Bolívars an. Es ist wirklich verrückt, was wir uns alles ausgedacht haben, um die Währungskontrolle zu umgehen. Ich habe zuerst PayPal ausprobiert. Aus Venezuela heraus ist es jedoch schwierig, an ein PayPal-Konto zu kommen, weil man dafür ein US-Bankkonto braucht. Große Unternehmen erwarten ebenfalls, dass ich eins habe. Das hat nur funktioniert, indem ich das Konto eines Freundes in den USA angab und er ein Dokument unterschrieb, mit dem er bestätigt, dass er die Dollars für mich erhält. Dann überweist er das Geld von seinem PayPal-Konto auf meins.

Inzwischen habe ich den Finanzdienstleister Payoneer entdeckt, der ein US-Bankkonto bereitstellt, und nutze ihn für große Unternehmen, die keine Bitcoins verwenden. Das Problem ist dann allerdings, das Payoneer- oder PayPal-Geld in Bolívars umzuwandeln. Ich würde viel verlieren. Ich kann also dieses Geld nicht ausgeben, solange ich in Venezuela lebe.

Was machen Menschen, die sich mit Bitcoin-Technologien nicht so gut auskennen?

Es gibt tatsächlich eine Art Wettrüsten unter den Kryptowährungen in Venezuela, um zu sehen, wer die zuverlässigste und einfachste Methode für ihre Verwendung anbieten kann. Digitale Geldbörsen sind heutzutage sehr leicht zu benutzen. Der schwierige Teil ist der Umtausch in Bolívars und wieder zurück. Es gibt keinen Mangel an Anleitungen für diese Technologien, aber Kryptowährungen können für die meisten schon sehr einschüchternd sein. Die meisten Menschen sind aber schlicht zu arm, um sich ein Smartphone zu leisten oder Datenguthaben zu kaufen. Schließlich fehlt hier manchmal selbst etwas so Einfaches wie Erkältungsmedizin. Dann müssen wir uns mit einer heißen Limonade begnügen, Heilpflanzen verwenden, die wir zu Hause ziehen, oder einfach abwarten, bis die Erkältung vorüber ist. Aber es gibt Krankheiten, bei denen man nicht einfach abwarten kann, und das ist wirklich beängstigend. Nahrungsmittel- und Medikamentenmangel sind meine größten Sorgen als Venezolaner.

INTERVIEW: VERONIKA SZENTPÉTERY-KESSLER