MIT Technology Review 10/2020
S. 84
Meinung
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel demonstrieren auf dem EU-Gipfel Ende Juli Einigkeit. Quelle: European Union

Die jüngste Form des Imperialismus

Die EU will Importe aus klimaschädlichen Ländern besteuern. Das könnte auch andere Staaten zwingen, aggressivere Klimavorschriften zu erlassen. Aber ist das fair gegenüber armen Ländern?

Ende Juli verabschiedete die EU mit dem Green Deal den kämpferischsten Plan gegen den Klimawandel in der Geschichte, um damit bis 2050 klimaneutral zu werden. Der prominenteste Teil des Deals sind Finanzmittel in Höhe von 600 Milliarden Euro, verteilt auf ein massives Konjunkturpaket und den Siebenjahreshaushalt der EU. Als weitaus mächtiger – und umstrittener – könnte sich aber eine andere Maßnahme erweisen: das „CO2-Grenzausgleichssystem“.

In der einfachsten Form würde die EU eine Steuer auf ­Importwaren erheben, deren Produktion mehr Treibhaus-gase verursacht, als EU-Herstellern erlaubt ist. Diese Abgabe könnte viele energieintensive Branchen wie Zement, Glas, Stahl, Dünger und fossile Brennstoffe treffen. Sie soll 2023 eingeführt werden und könnte die Emissionen weit über die Grenzen Europas hinaus senken.

„In den letzten 30 Jahren gab es bei Klimaverhandlungen nur Zuckerbrot und freiwil­lige Selbstverpflichtungen“, sagt Nikos Tsafos, Senior Fellow am US-Thinktank Center for Strategic and Inter­national Studies. „Nun kommt zum ersten Mal die Peitsche hinzu.“

Die Logik dahinter ist einfach: Die Steuer soll verhindern, dass EU-Mitglieder ihren eigenen CO2-Fußabdruck schönrechnen, indem sie die Produktion von Gütern in andere Teile der Welt verlagern, wo sie zwar billiger, aber eben auch schmutziger hergestellt werden. Der CO2-Zoll schützt zudem europäische Hersteller vor billigen Importen aus Ländern mit niedrigeren Klimastandards. Außerdem soll er außer­europäische Unternehmen zu aggressiveren Klimamaßnahmen nötigen, sagt David Victor, Co-Direktor des Laboratory on International Law and Regulation in San ­Diego. Und schließlich könnte die Abgabe zu bi- oder trilateralen Handelsabkommen mit großen Ländern führen, die sich verpflichten, ähnliche Klimavorschriften wie Europa einzuhalten.

Victor argumentiert, dass solche Abkommen weitaus mehr für den Klimaschutz bringen könnten als internationale Verträge wie das Pariser Abkommen, bei denen alle Ziele oder Regeln ­locker genug sein müssen, um fast 200 Nationen ins Boot zu holen. Wenn die EU entsprechende Vereinbarungen mit China, Indien, Japan oder den USA trifft, würde sie einen riesigen Anteil an den weltweiten Emissionen adressieren – und durch die schiere Größe dieser Märkte weitere Nationen ermutigen, ihre Klimabemühungen zu verstärken. „Das ist genau die Art von Strategie, die meiner Meinung nach die Blockade beim Klimaschutz aufbrechen wird“, sagt Victor.

Auch die Demokratische Partei der USA fordert eine ­„Carbon Adjustment Fee“ für Produkte aus Ländern, die das Pariser Abkommen nicht einhalten – auch wenn niemand es dort eine „Steuer“ nennen will.

Aber für Tsafos ist es bei Weitem nicht klar, ob ein CO2-Zoll die EU wirklich zum Zentrum eines Netzwerks klimafreundlicher Staaten machen würde, oder nicht eher zu einer isolierten Insel. Oder etwas dazwischen: Zu einem Teil eines zersplitterten globalen Marktes, der aus einer Handvoll klimafreundlicher und einem ganzen Haufen CO2-intensiver Staaten besteht, die jeweils untereinander Handel treiben.

Wo die EU landen wird, hängt von der genauen Um-setzung der Pläne ab. Die detaillierten Verhandlungen ­beginnen erst im nächsten Jahr, und sie dürften viele recht­liche, technische und soziale Herausforderungen mit sich bringen. So werden eine Reihe von Nicht-EU-Staaten den Vorschlag wahrscheinlich innerhalb der Welthandelsorganisation anfechten. Zudem wird es auch massive Anstrengun-gen erfordern, die jeweiligen CO2-Fußabdrücke verschiedener Produkte von verschiedenen Her-stellern in verschiedenen Ländern zuverlässig ­abzuschätzen.

Kritiker argumentieren, dass es von Europa, das fast ein Viertel der gesamten historischen Emissionen der Welt produziert hat, grundsätzlich unfair sei, arme Länder auf diese Weise zu bestrafen und ihnen den Willen der EU aufzuzwingen. Sie hätten im Laufe ihrer Geschichte weit weniger zum Klimawandel beigetragen und pro Kopf immer noch erheblich geringere Emissionen.

„Obwohl sie erst einmal vernünftig klingen, stellen solche einseitigen Maßnahmen lediglich die jüngste Form des Wirtschaftsimperialismus dar“, sagt Arvind Ravikumar, der das Labor für nachhaltige Energieentwicklung an der Harrisburg University of Science and Technology leitet. „Sie spiegeln die koloniale Praxis des Reichtumstransfers von den Entwicklungsländern an die Industrieländer wider.“

Befürworter entgegnen, dass die EU solche Ungerechtigkeiten ausgleichen könnte, indem sie etwa die Abgaben für bestimmte Länder reduziert, ihn auf der Grundlage historischer Emissionen berechnet, oder armen Ländern dabei hilft, von fossilen Brennstoffen wegzukommen.

Ravikumar stimmt mit den Befürwortern zwar darin überein, dass es Wege gibt, die CO2-Abgaben fairer zu gestalten. Aber er glaubt, dass solche Maßnahmen niemals angemessen und gerecht sein werden, solange sie einseitig von der EU auferlegt werden. „Ich denke, diese Diskussion ignoriert bequemerweise grundlegende Gerechtigkeitsfragen“, schrieb er auf Twitter.

Das zentrale Problem bleibt allerdings bestehen: Selbst mit streitbaren Klimaschutzmaßnahmen können einzelne Staaten oder Regionen die weltweiten Emissionen kaum nennenswert senken. Der Klimawandel ist ein globales Problem, das die Länder nur gemeinsam angehen können. Sie müssen also, sagt Victor, Mittel und Wege finden, den Ausstoß an Treibhausgasen in einem Ausmaß und einem Tempo zu senken, wie es der eskalierenden Gefahr entspricht.