MIT Technology Review 12/2020
S. 104
Fundamente
Jubiläum

Von der Kurbelkiste zum Kino

Vor 125 Jahren gab es die ersten öffentlichen Filmvorführungen in Berlin und Paris.

Im Dezember 1895 wähnten sich die Gebrüder Skladanowsky kurz vor ihrem Durchbruch. Wenige Wochen zuvor, am 1. November, hatten Max (1863–1939) und Emil (1866–1945) Geschichte geschrieben: Im ausverkauften Berliner Varieté „Wintergarten“ warfen sie erstmals bewegte Bilder vor zahlendem Publikum auf eine Leinwand. Das 15-minütige Programm bestand aus acht kurzen Filmen: Tänze, Akrobatik, ein Ringkampf – und ein boxendes Känguru. In insgesamt 23 Aufführungen bekamen etwa 30000 bis 40000 Zuschauer die Streifen zu sehen, schätzt der Filmhistoriker Joachim Castan.

Das ursprüngliche Metier der Brüder waren Vorführungen handgemalter Glas-Dias mit Spezialeffekten – etwa Gewitterwolken, die sich über eine Landschaft schoben. Durchgehend bewegte Bilder waren von Daumenkinos oder rotierenden Trommeln bekannt, ließen sich aber nicht projizieren. Da stieß Max auf Zelluloidfilm von Kodak. Er bastelte dafür eine hölzerne Kamera mit Schneckengetriebe, das den Film ruckweise von Bild zu Bild transportierte.

Max Skladanowsky mit seinem Projektor.
Foto: SZ Photo

Da die Filme noch nicht perforiert waren, erzeugte die „Kurbelkiste“ keinen einheitlichen Bildabstand. Also musste jedes einzelne Bild per Hand ausgeschnitten und auf einen weiteren Film kopiert werden. Anschließend stanzten die Brüder Löcher in die Randstreifen und verstärkten sie mit Ösen, damit ein Projektor sie präzise transportieren konnte. Die grobschlächtige Mechanik des „Bioscops“ schaffte allerdings nur acht Bilder pro Sekunde – zu wenig für die Illusion einer fließenden Bewegung. Also koppelte Max zwei Projektoren zusammen, die abwechselnd Bilder projizierten.

Die ersten Filme waren Endlosschleifen mit nur 99 bis 174 Bildern. Das Publikum war trotzdem angetan. Das sprach sich bis nach Paris herum: Das renommierte Varieté „Folies Bergère“ buchte die Skladanowskys ab Januar 1896 für vier Monate – ein Ritterschlag für die Schausteller aus kleinen Verhältnissen. Doch zwei Tage vor ihrem ersten Auftritt sahen sie im Grand Café, wie ein anderes Brüderpaar namens Auguste und Louis Lumière deutlich längere und brillantere Filme zeigte. „Voller Bitterkeit müssen die Skladanowskys damals erkannt haben, dass diese Filme einen viel größeren Bann als ihre eigenen Filme ausübten“, schreibt Castan.

Zum Auftritt im Varieté kam es nicht mehr. Die Brüder bekamen ihre Gage ausbezahlt und fuhren nach Hause. Anschließend verbesserten sie ihre Technik zwar noch, waren bald aber endgültig abgehängt. Max überwarf sich mit Emil, verlegte sich auf Daumenkinos und stilisierte sich zum eigentlichen Erfinder des Kinos – unterstützt von den Nazis, die sich gern mit deutschen Pionieren schmückten.

Tatsache ist jedoch: Schon um 1890 zeigte das „Kinetoskop“ von Edison flimmerfreie Filme. Allerdings konnten sie nur von einem einzelnen Zuschauer durch ein Guckloch betrachtet werden, denn durch die hohe Frequenz von 48 Bildern pro Sekunde waren die Bilder für eine Projektion zu dunkel.

Sowohl die Skladanowskys als auch die Lumières bauten darauf auf. Sie arbeiteten jeweils mit 16 Bildern pro Sekunde und ließen den Film nicht kontinuierlich durchlaufen, sondern Bild für Bild. Dazu wählten die Skladanowskys ein Schnecken­getriebe, die Lumières einen Greifer. Damit arbeiten Film­kameras bis heute, die Lösung der Sklada­nowskys erwies sich hingegen als Sackgasse. „Edison lieferte zwei Drittel der Filmerfindung, Lumière gebührt das letzte Drittel der Kino­erfindung“, meint Castan. Trotzdem sei es ­„erstaunlich, wie [Max] Skladanowsky mit ­einfachsten Mitteln zu erstaunlichsten Resultaten gekommen ist. Gegen die internationale Konkurrenz von Großunternehmen war er von Anfang an chancenlos.“

Wim Wenders setzt den Brüdern 1996 ein Denkmal in Form eines Stummfilms. „Das waren Zirkusleute, unbedarft, nicht reich – ganz undeutsch, das hat mir so gefallen“, sagt er. „Sie haben aus eigener Kraft das Kino miterfunden – leider mit einem Apparat, der in dem Moment, wo er vorgeführt wurde, schon obsolet war.“ Gregor Honsel