MIT Technology Review 12/2020
S. 92
Meinung
Googles CEO Sundar Pichai verteidigt sein Geschäfts­modell bei einer Videokonferenz mit Abgeor­d­neten in ­Washington. Foto: Getty Images News/Getty

Lausige Argumente

Wie der Gesetzgeber in den USA an dem Beweis scheiterte, dass Technologieunternehmen digitale Märkte monopolisieren.

Am 6. Oktober veröffentlichte der US-Kongress seinen lang erwarteten Bericht über kartellrechtliche Maßnahmen gegen die großen US-Technologie-unternehmen. Mit dem 451 Seiten umfassenden Bericht ­versuchte der Gesetzgeber, eine scheinbar einfache Frage zu beantworten: Beteiligen sich Amazon, Apple, Facebook und Google an wettbewerbswidrigen Praktiken, die die ­Behörden nach den geltenden Gesetzen nicht bestrafen können? Und wenn ja, welche Änderungen sollte der Kongress vornehmen?

Leider leistete der zuständige Ausschuss des US-Repräsentantenhauses lausige Arbeit. Die Autoren gingen offenbar ­zunächst von der Schlussfolgerung „Big Tech übernimmt die Welt“ aus und suchten rückwärts nach Belegen.

Der Bericht beschreibt zwar einige wenige echte Fälle von unlauterem Verhalten der Plattformen, aber viele der „Pro­ble­me“, die er identifiziert, sind lediglich Beschwerden von Unternehmen, die im Wettbewerb unterlegen sind. Aber es liegt in der Natur des Wettbewerbs, Konkurrenten zum Vorteil der Verbraucher zu schädigen (zum Beispiel durch Preissenkungen). Bei den Schlüsselfaktoren hingegen findet er keine nega­ti­ven Effekte, die der US-Technologieindustrie anzulasten ­wären: Die Preise sinken, die Produktivität steigt, neue Wettbewerber florieren, die Beschäftigung übertrifft andere Sektoren.

Zudem ist das Dokument mit sachlichen Fehlern gespickt. So wird beispielsweise behauptet, dass „in einem Jahrzehnt 30 Prozent der weltweiten Bruttowirtschaftsleistung bei [Amazon, Apple, Facebook und Google] und nur einer Handvoll anderer liegen könnten“. Das wäre gigantisch, denn im letzten Jahr lagen deren kombinierten Jahreseinnahmen nur bei etwa einem halben Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Wer in die Quelle für diese Statistik schaut, eine Studie von McKinsey, entdeckt den Fehler: Dort steht, dass bis 2025 (nicht 2030) die Einnahmen aus dem gesamten digitalen Handel 30 Prozent der weltweiten Einnahmen erreichen könnten. Es gibt Dutzende von anderen Beispielen wie dieses. Die Autoren des Berichts kneten die Statistiken, um die Technologieunternehmen wie Monopole aussehen zu lassen.

Als Folge kommt der Bericht zu Empfehlungen, die weit mehr schaden als nützen. Die Hauptforderung besteht darin, dominante Plattformen zur Trennung ihrer Geschäftsbereiche zu zwingen. Google könnte nicht Android besitzen und gleichzeitig Apps wie Gmail, Maps und Chrome anbieten. Facebook müsste sich entscheiden, entweder eine Social-­Media-Plattform zu betreiben – oder Werbung auf ihr zu ­verkaufen. Das Ergebnis wäre, dass die Ökosysteme von Technologieunternehmen zerstört und ihre derzeitigen ­Geschäftsmodelle unrentabel würden.

Um seine Vorschläge zu rechtfertigen, hätte der Bericht also auf jeden Fall einen rauchenden Colt (oder zwei) finden müssen. Hat er aber nicht. Die führenden Technologieunternehmen erzeugen enorme Vorteile für die Verbraucher. Die Preise für digitale Anzeigen sind in den letzten zehn Jahren um mehr als 40 Prozent gefallen, und diese Einsparungen fließen in Form niedrigerer Preise für Waren und Dienstleistungen an die Verbraucher weiter. Die Preise für Bücher sind in den USA seit dem Börsengang von Amazon im Jahr 1997 um mehr als 40 Prozent gefallen. Im App Store von Apple sinken die Preise im gleichen Maß (30 Prozent) wie auf an­deren Plattformen. Müssten Verbraucher für die kostenlos angebotenen Dienste bezahlen, sähen die Ausgaben dafür laut einer Studie in den „Proceedings of the National Academy of Sciences“ wie folgt aus: im Durchschnitt 17530 Dollar pro Jahr für die Aufgabe von Suchmaschinen, 8414 Dollar für E-Mails und 3648 Dollar für digitale Karten.

Eines der Hauptthemen des Berichts ist, dass diese Plattformen so mächtig geworden sind, dass keine neuen Unternehmen es wagen, sie herauszufordern (und kein Risikokapitalgeber es wagt, potenzielle Konkurrenten zu finanzieren). Mehrere Beispiele aus jüngster Zeit strafen diese Behauptung Lügen. Shopify ist ein 130 Milliarden Dollar schweres E-Commerce-Unternehmen. Es wurde 2006 gegründet, und die Aktien sind in den vergangenen drei Jahren um etwa 1000 Prozent gestiegen. Das Bruttowarenvolumen auf der Plattform hat sich von Jahr zu Jahr mehr als verdoppelt. Im Gegensatz dazu wächst Amazon jährlich nur um etwa 20 Prozent.

Ähnliches findet sich im Bereich soziale Medien: Ein veraltetes Diagramm im Bericht führt TikTok mit etwa 300 Millionen monatlich aktiven Nutzern auf. Dabei ist TikTok ein weitaus beeindruckenderer Konkurrent von Facebook, als die Autoren zuzugeben bereit sind: Im Juli hatte TikTok weltweit fast 700 Millionen monatlich aktive Nutzer. Kürzlich veröffentlichte die Investmentbank Piper Sandler zudem eine Studie, die TikTok als zweitbeliebteste Social-Media-Anwendung bei US-Teenagern führt – hinter Snapchat, aber noch vor Facebooks Instagram.

Das sind keine Ausreißer. Nach Angaben von PitchBook stieg die jährliche Gesamtzahl der VC-Deals zwischen 2006 und 2019 von 3390 auf 12211. Der Wert der Deals erhöhte sich von 29,4 auf 135,8 Milliarden Dollar und die Zahl der Deals in der frühesten Phase der Investitions- und Startrunden um etwa den Faktor zehn.

Zugegeben, alle hier vorgelegten Daten schließen künftige Kartellverfahren gegen die Technologieunternehmen nicht aus. Tatsächlich hat das US-Justizministerium mittlerweile eine Wettbewerbsklage gegen Google eingereicht. Wenn diese Fälle vor Gericht gehen, könnte sich zeigen, dass die Preise noch schneller gefallen wären, wenn die fraglichen Technologiegiganten nicht so dominant gewesen wären. Aber ein solches Ergebnis würde nur beweisen, dass wir keine größeren Änderungen der US-amerikanischen Kartellgesetze brauchen, um sie zur Verantwortung zu ziehen.