MIT Technology Review 12/2020
S. 94
Meinung

Scheibchenweise zum Überwachungsstaat

Das Stakkato verfassungswidriger „Sicherheitsgesetze“ der GroKo muss enden.

Unermüdlich hat die Große Koalition in den vergangenen Jahren Überwachungsgesetze verabschiedet und den Präventionsstaat munitioniert. Seit Christine Lambrecht Bundesjustizministerin ist, flutscht die Maschinerie noch besser: Die SPD-Politikerin versteht sich gut mit ihrem Kabinettskollegen an der Spitze des Innenressorts, Horst Seehofer (CSU). Beide scheinen sich zu überbieten, wer unter dem Aufhänger der inneren Sicherheit die schärferen Entwürfe vorlegt.

Herausgekommen ist dabei etwa das Gesetz zur Bekämpfung von „Rechtsextremismus und Hasskriminalität“ aus dem Hause Lambrecht. Damit müssen Webdienste nicht nur Passwörter herausgeben, sondern auch strafrechtlich relevante Inhalte wie Hassbeiträge, Terrorismuspropaganda, Bedrohungen sowie Kinderpornografie löschen und zugleich unaufgefordert inklusive IP-Adressen und Portnummern ans Bundeskriminalamt melden.

Pech nur: Der Initiative steht die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn geschrieben. Das Bundesverfassungsgericht hatte jüngst bereits Passagen aus dem schwarz-roten Gesetz zur „Bestandsdatenauskunft“ beanstandet. Ein staatliches Ausschnüffeln von Nutzern – etwa anhand deren Name oder ­Anschrift – darf demnach „nicht ins Blaue hinein“ erfolgen. Genau das wäre mit der BKA-Meldepflicht der Fall. Dies hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) gezwungen, seine Unterschrift zu verweigern. Er drängt darauf, stante pede nachzubessern.

Lambrecht selbst streitet gar nicht mehr ab, dass die umstrittene Klausel verfassungswidrig ist. Hätte das einem der 348 Juristen in ihrem Hause nicht früher auffallen müssen? Wieso muss dazu erst das oberste Gericht der Koalition erneut eine Klatsche erteilen?

Es handelt sich um keinen Einzelfall. Die lange Liste der GroKo-Gesetze, die Karlsruhe aktuell prüft, umfasst auch die Vorratsdatenspeicherung, den Einsatz des Staatstrojaners zur Strafverfolgung, die Fluggastdatensammlung und die schon einmal beanstandete ­Anti-Terror-Datei.

Doch der Terror gegen die Bürgerrechte geht weiter. Die anlasslose Massenüberwachung des Bundesnachrichten­dienstes (BND) von Ausländern durch die „strategische ­Fernmeldeaufklärung“ erklärten die Verfassungshüter in der von Schwarz-Rot beschlossenen Form im Mai für un­vereinbar mit dem Grundgesetz. Die Karlsruher Richter ­gaben zugleich Hinweise, wie die geforderte Reform aus-sehen müsste.

Das Kanzleramt behebt mit seinem entsprechenden Entwurf aber nicht einmal längst bekannte Kontrolldefizite beim BND. Es schlägt vielmehr neue breite Überwachungs­befugnisse vor – mit der Lizenz zum Hacken der Hälfte aller Telekommunikationsnetze weltweit. Auch die müsste das Verfassungsgericht Jahre später wieder zurechtstutzen. Mit weiteren Entwürfen will die Regierung den Einsatz von Staatstrojanern für alle Geheimdienste freigeben, damit sie WhatsApp & Co. abhören und der Polizei im Kampf gegen Kinderpornografie helfen können.

Der Exekutive ist dabei bewusst: Die Judikative verreißt Abhörgesetze meist nicht in Bausch und Bogen, ein Teil der Befugnisse bleibt bestehen. Der ständige Ruf der Sicherheitsbehörden und konservativen Politiker nach mehr Überwachungskompetenzen höhlt den Stein weiter: So erklärte der Europäische Gerichtshof 2014 und 2016 glasklar, dass eine anlasslose, verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung mit den Grundrechten nicht vereinbar sei. Im dritten Gang im Oktober öffnete er nun die Tür für temporäre Ausnahmen, etwa bei einem Terrorangriff, und generell für das Sammeln von IP-Adressen. Datenschützer sind enttäuscht, schwarze Sheriffs jubeln. Leidtragende sind die Demokratie und die Gewaltenteilung, denen die Masche schadet.