MIT Technology Review 6/2020
S. 86
Meinung

Eine Chronik des Versagens

Der Ausbau der Photovoltaik droht gegen eine Wand zu fahren, weil es das Bundeswirtschaftsministerium nicht schafft, einen längst beschlossenen Passus zu ändern.

Was ist gefährlicher – das Corona-Virus oder der Klimawandel? Ich kann diese Frage nicht mehr hören. Beides hat wenig miteinander zu tun. Man kann durchaus gegen beides mit der angemessenen Ernsthaftigkeit vorgehen. Nichts hindert den Gesetzgeber daran, auch während einer Pandemie vernünftige Politik zu machen. Doch während der Rest der Regierung mit flinker Hand den halben Rechtsstaat umstülpt, hat es das Bundeswirtschafsministerium bis heute nicht geschafft, den 52-Gigawatt-Deckel für die Photovoltaik zu beerdigen.

Zur Erinnerung: 2012 beschloss der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, die Förderung von Photovoltaikanlagen mit weniger als 750 Kilowatt einzustellen, sobald deutschlandweit insgesamt 52 Gigawatt installiert sind. Aktuell sind es knapp 50 Gigawatt. Bei einem jährlichen Zubau von zuletzt knapp 4 Gigawatt ist also absehbar, dass der PV-Markt auf eine Mauer zurast.

Dabei ist die Lage heute eine ganz andere als 2012. Drei Dinge haben wir gelernt:

  • Photovoltaik kann Strom zu durchaus konkurrenzfähigen Preisen erzeugen. Große Freiflächenanlagen liefern die Kilowattstunde zu etwa fünf Cent, kleine Dachanlage für knapp zehn. Eine Kostenexplosion droht also nicht.
  • Erneuerbare können massiv einspeisen, ohne das Stromnetz abzuschießen. In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben sie immerhin 52 Prozent des gesamten deutschen Verbrauchs erzeugt. Die Mär vom überforderten Stromnetz ist nicht haltbar.
  • Eine Finanzierung über den Strommarkt ist illusorisch, weil sich die Erneuerbaren gegenseitig den Preis kaputtmachen, wenn es viel Wind oder Sonne gibt. Feste Einspeisevergütungen – oder irgendeine andere Alternative zu Preisen, die allein auf Angebot und Nachfrage basieren – werden weiterhin gebraucht.

Deshalb gibt es mittlerweile auch praktisch niemanden mehr, der den 52-Gigawatt-Deckel aus sachlichen Gründen verteidigt. Schon am 20. September 2019 haben sich die Koalitionsparteien in ihrem „Klimaschutzprogramm 2030“ darauf geeinigt, ihn abzuschaffen. Am 9. Oktober verabschiedete das Kabinett einen entsprechenden Beschluss und hob das Ausbauziel für Photovoltaik bis 2030 auf 98 Gigawatt an. Zwei Tage später brachte auch der Bundesrat einen ähnlich lautenden Gesetzentwurf ein. Das ist jetzt fast ein dreiviertel Jahr her. Getan hat sich seitdem: nichts.

Am 13. März forderte der Bundesrat erneut, den Deckel schleunigst abzuschaffen. „Wir arbeiten daran und wollen die Abschaffung des Deckels so schnell wie möglich durchs Kabinett bringen“, sagte eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums, ohne konkrete Termine zu nennen. Doch als sich der Wirtschaftsausschuss des Bundestags am 22. April traf, um über eine Reform des EEG zu sprechen, strichen die Regierungsparteien den Photovoltaik-Deckel kurzerhand von der Tagesordnung, berichtet die Grünen-Bundestagsabgeordnete Julia Verlinden. Und als das Kabinett am 29. April in einem Eilverfahren eine Mini-EEG-Reform beschloss, bei der es unter anderem um Fristverlängerungen für Windkraft-Ausschreibungen wegen der Coronakrise ging, war von der Abschaffung des Deckels wieder keine Rede. Ebenfalls offen ist noch, wie die privaten Solaranlagen, die nun nach zwanzig Jahren aus der EEG-Förderung fallen, weiterbetrieben werden sollen.

Die Arbeitsverweigerung der Regierung zeigt bereits erste Folgen: Der Geschäftserwartungsindex des Bundesverbandes Solarwirtschaft (BSW) hat sich wegen des drohenden Deckels innerhalb von nur drei Monaten halbiert. „Eine vergleichbare Eintrübung in so kurzer Zeit haben wir nie zuvor beobachten können“, sagt Carsten Körnig, Hauptgeschäftsführer des BSW, und warnt vor dem Verlust zehntausender Jobs.

Was die ganze Sache so kompliziert macht: Der PV-Deckel war bisher immer Teil von Gesetzesbündeln, in denen unter anderem auch Kohleausstieg und Windkraft-Abstände enthalten sind. Das ermöglicht der Union, die Photovoltaik als Geisel zu nehmen, um die Abstandsregelung durchzusetzen. Man könnte auch Erpressung dazu sagen. Das ist schlechtes Handwerk und schlechter Stil. Schlechtes Handwerk, weil niemand die Regierung gezwungen hat, die Entscheidungen zu Kohle, Wind und Sonne miteinander zu verkoppeln. Man kann sie auch problemlos unabhängig voneinander behandeln oder in andere Vorhaben wie die Mini-EEG-Reform packen. Schlechter Stil, weil man in Verhandlungen nicht aus taktischen Gründen Positionen vertreten kann, die man aus sachlichen Gründen längst selbst aufgegeben hat. Zudem ist es ein exekutiver Offenbarungseid, nicht einmal unumstrittene Maßnahmen in angemessener Zeit umsetzen zu können.