MIT Technology Review 8/2020
S. 84
Meinung
In den tropischen Wäldern auf Bali wachsen unzählige traditionelle Heilpflanzen. Foto: Shutterstock

Die große Lücke

Seit Monaten hat ein Virus die Welt im Griff, die Kliniken kämpfen seit Jahren gegen resistente Bakterien, und auch Tumore mogeln sich geschickt durch die Chemotherapie. Wäre die Medizin deutlich weiter, wenn die Pharmaforschung nicht den Naturstoffen den Rücken gekehrt hätte?

Die Geschichte der Medizin ist eine Geschichte der Naturstoffe. Fingerhut-Glycoside haben die Ägypter etwa 1500 vor Christus als Herzmedikamente eingesetzt, und sie sind nach wie vor unverzichtbar. Weidenrinde kauten Menschen seit der Antike und tun es heute nur deswegen nicht mehr, weil daraus das erfolgreichste Medikament aller Zeiten wurde: Aspirin. Diese Reihe ließe sich über Morphin aus Schlafmohn, Penicillin aus Pilzen oder Taxol aus Eiben ewig fortsetzen. Zwischen Anfang der 1980er- und 1990er- Jahre stammten etwa 40 Prozent der neu zugelassenen Medikamente von Naturstoffen ab. Bei denen gegen Krebs und ­Infektionskrankheiten war der Anteil sogar noch höher. Dennoch stellten in den 90er-Jahren die meisten Pharma­unter­nehmen ihre Naturstoffforschung ein oder kürzten die Budgets. Forschungseinrichtungen und Universitäten folgten dem Trend. Biotech-Anlagen wurden zurückgebaut, die Forschungsausrichtungen ganzer Forschungszentren geändert. Die Naturstoffforschung entwickelte sich innerhalb weniger Jahre vom Treiber der Pharmazie zur Nische für Ewiggestrige.

Der Grund ist leider nur zu menschlich: Die schnellen Erfolge waren durch. Die heimische Flora und Fauna mit ihren überlieferten Anwendungen abgegrast, die Tropen nicht so ergiebig und einfach zu erschließen wie gehofft. Naturstoffchemie wurde kompliziert. Das Finden neuer, wirksamer Substanzen ist ein mühsames Geschäft, bei dem viel vom Zufall abhängt. Tausende von Extrakten oder Substanzen werden mit Krankheitserregern, Krebszellen, Pilzen – oder wogegen gerade ein Mittel gesucht wird – zusammengebracht. Die, bei denen sich eine Wirkung zeigt, werden herausgepickt und weiter untersucht. Die Methode ist schlimmer als die Suche nach der Nadel im Heuhaufen und eine vermeintlich anachronistische, wenig rationale Art zu forschen. Daran konnten auch High-Throughput-Verfahren, die Anfang der 90er entwickelt wurden, nicht viel ändern. Mit ihnen lassen sich zwar Extrakte und Substanzen zu Tausenden pro Tag screenen. Aber nach anfäng­licher Begeisterung darüber, nicht mehr mühsam per Hand testen zu müssen, zeigte sich, dass die komplexen, empfindlichen Naturstoffe nicht für Hochdurchsatz gemacht sind.

Treffer versprechen zudem nur Organismen aus neuen Lebensräumen, denn die alten Bekannten haben nichts Neues mehr zu bieten. So zog die Suche nach neuen Quellen für Wirkstoffe weite Kreise – in die tropischen Regenwälder oder die karibischen Korallenriffe. Nur wer darf was wohin ausführen? Wem gehören die Rechte, wenn aus der Liane ein Blockbuster entwickelt wird?

Und dann brachte die Automatisierung der Analytik auch die Synthese von Substanzen voran. Die Pharmaindustrie sah einen deutlich einfacheren Weg zum Ziel. Da die Natur ihr keine schnellen Erfolge mehr zu bieten hatte, setzte sie fortan ganz auf kombinatorische Chemie: Ein bewährtes Grundgerüst aus dem Fundus der Pharmazeutika wird mit unterschiedlichen, wenig komplexen Bausteinen zu immer neuen Verbindungen abgewandelt. Diese Spielarten bewährter Stoffe – die sogenannten „Kleinen Moleküle“ – passten viel besser zum High-Throughput-Verfahren. Sie wurden zu Hunderttausenden synthetisiert und getestet. Masse statt Klasse sollte potente Wirkstoffe erzwingen, und die medizinische Chemie orientierte sich eher am synthetisch Machbaren als am biologisch Sinnvollen.

Einer schier unendlichen Zahl synthetischer Verbindungen steht eine Biologie gegenüber, die nur einen eingeschränkten chemischen Aktionsradius hat. Wirkstoffe müssen eben irgendwo andocken. Während Naturstoffe per se dafür gemacht sind, in biologischen Systemen zu wirken, sind die kleinen Moleküle aus den Synthese-Apparaten es nicht. Die Ergebnisse waren entsprechend ernüchternd.

Zwei Jahrzehnte hat sich die Pharmaforschung also damit beschäftigt, einen unüberschaubaren Berg von Molekülen zu synthetisieren. Aber kaum neue Medikamente sind in der Pipeline gelandet. Und das, obwohl die Zahl der Infektionserreger stetig zunimmt, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus und Krebs sich zu Volksleiden entwickelt haben. Das führt in den letzten Jahren dann doch zu einem Umdenken. Die Naturstoffforschung kommt langsam wieder in Mode. Die Lücke bleibt jedoch. Und zwar nicht nur die ungenutzte Zeit, in der systematisch das Potenzial von Organismen hätte erforscht werden können. Die Lücke ist vor allem eine Wissenslücke. Kaum noch Forschende kennen sich mit der Suche nach Naturstoffen aus. Automaten können ihre Erfahrungen und den geschulten Blick nicht kompensieren. Zwar kann niemand sagen, ob wir bei konsequenter Naturstoffforschung heute keine Masken tragen müssten – aber man kann mit einiger Berechtigung sagen: Es wäre durchaus möglich.