MIT Technology Review 8/2020
S. 96
Fundamente
Jubiläum

Hochgeschraubte Erwartungen

Vor 175 Jahren stach ein Schiff in See, welches das bis heute gängige Design definiert.

Schon die Dimensionen sprengten ­alles Dagewesene. Mit 3400 Tonnen und 98 Meter Länge war die „SS ­Great Britain“ rund eineinhalbmal größer als ihre Vorgänger. Zudem vereinte sie technische Neuerungen, die heute selbstverständlich sind – Eisenrumpf, doppelter Boden, wasserdichte Schotten und vor allem: Propellerantrieb. Doch wie es bei Großprojekten so ist, ging beim Bau erst mal ziemlich viel in die Hose. 

Der Erbauer: Isambard Kingdom Brunel.
Foto: Interfoto

Ihr Erbauer war der legendäre engli-sche Ingenieur Isambard Kingdom Brunel (1806–1859). Er hatte mit der „Great Western“, dem seinerzeit größten Passagier-Raddampfer der Welt, schon einmal neue Maßstäbe gesetzt. Die „Great Britain“ sollte noch einen draufsetzen – mit einem Rumpf aus robustem Eisen statt aus Holz. Zunächst war sie ebenfalls als Raddampfer geplant. Doch dann bekam Brunel die ­Gelegenheit, den Schraubendampfer „Archimedes“ ausgiebig zu testen. Dessen Antrieb bestand ursprünglich aus einer länglichen hölzernen Schnecke mit zwei vollen Umdrehungen wie bei einer Wendeltreppe. Als sie 1837 während einer Probefahrt zerbrach, stellte man fest: Mit dem verbliebenen Fragment war das Schiff doppelt so schnell. Später ersetzte man die durchgehende 360-Grad-Spirale durch mehrere ­separate Flügel. So wurde aus der archimedischen Schraube der bis heute gebräuchliche Schiffspropeller und aus der „Archimedes“ die Siegerin zahlreicher Wettfahrten gegen die schaufelradelnde Konkurrenz.

Brunel erkannte schnell die Vorteile des Propellers: Er war leichter, kleiner, preiswerter und effizienter, macht durch seinen tieferen Schwerpunkt das Schiff stabiler und durch seine schlanke Line besser manövrierbar. Damit konnte er seine Investoren überzeugen, die schon im Bau befindliche „Great Britain“ auf Schraubenantrieb umzurüsten. Das allein verzögerte den Bau um neun Monate. Anschließend passte das Schiff wegen der geänderten Dimensionen nicht ins vorgesehene Dock, was mindestens ein weiteres Jahr kostete.

Als ersten Antrieb wählte Brunel aus unerfindlichen Gründen einen von ihm selbst entwickelten sechsblättrigen Propeller mit einem Durchmesser von knapp fünf Metern. Er erwies sich schnell als ungeeignet und wurde durch einen vierblättrigen ersetzt, der sich schon bei der „Archimedes“ bewährt hatte.

Am 26. Juli 1845, vor 175 Jahren, konnte die „Great Britain“ endlich zur Jungfernfahrt von Liverpool nach New York starten. Trotz ihrer 1000-PS-Dampfmaschine schaffte sie dabei lediglich einen Schnitt von 9,25 Knoten – langsamer als die konventionelle Konkurrenz.

Brunel selbst sah die Ursache offenbar in einer zu kleinen Schraube, denn er ließ anschließend Erweiterungsbleche an die Flügel nieten, welche die nächste Überfahrt allerdings nicht überlebten. Doch für einen speziellen Kundenkreis zählten ohnehin ganz andere Dinge: Die Navy haderte damit, dass seitliche Schaufelräder den eigenen Kanonen im Weg waren und den feindlichen ein gutes Ziel boten. Und so war es vor allem das Militär, das seine Schiffe ab den 1840er-Jahren zunehmend mit Schrauben ausstattete. Rund 15 Jahre später waren Schaufelraddampfer – ob zivil oder militärisch – ein Anachronismus. 

Der Antrieb: sechsflügelige Schraube.
Foto: Peter Barritt/Alamy

Dass die „Great Britain“ später auf dem Liniendienst nach Australien doch noch zu einem legendär zuverlässigen Passagierschiff werden sollte, geschah nicht wegen, sondern eher trotz ihrer Schraube. Diese wurde stetig verkleinert und 1882 kom-plett abgebaut. Danach transportierte die ­„Great Britain noch ein paar Jahre als reines Segelschiff Kohle und landete schließlich als Kohlebunker auf den Falklands, wo sie 1937 sank. 1970 ließ ein englischer Geschäftsmann sie heben, reparieren und zurück auf das Dock in Bristol schleppen, wo sie mehr als ein Jahrhundert zuvor vom Stapel gelaufen war. Heute ist sie dort als Museumsschiff zu besichtigen. Gregor Honsel