MIT Technology Review 8/2020
S. 3
Editorial
© Joanna Nottebrock

Liebe Leserinnen und Leser,

Seit Anfang Juni ist das Konjunkturpaket der Bundesregierung verabschiedet, und aus vielen Zeilen spricht der Wunsch, der Wirtschaft eine neue Richtung zu geben – vom Klimaschutz bis zur künstlichen Intelligenz. Es ist also ein guter Zeitpunkt, zurückzuschauen und sich zu fragen: Wo hat sich der Fortschritt vergaloppiert? Es ist zwar leichter, nachher klüger zu sein als vorher. Aber nicht mehr ganz so leicht ist es, nachher so klug sein, dass man beim nächsten Mal schon vorher klüger ist. Genau darum geht es uns.

Wir wollen Merkmale aufzeigen, die als Orientierung dienen können. Eine ist beispielsweise, die Komplexität der Technologie ins Verhältnis zum Risiko von Nebenwirkungen zu setzen. Der Schnelle Brüter etwa entstand aus dem Traum, Brennstoff aus Atomkraftwerken aufzubereiten und erneut zu verwenden. Bis heute arbeiten Ingenieure daran, doch kein Land hat eine derartige Anlage unfallfrei zum Laufen gebracht. Und da die Nebenwirkung nicht nur ein Reaktorunfall, sondern auch noch die Produktion von waffenfähigem Plutonium ist, sollte man noch einmal grundsätzlich über die Idee nachdenken. Was die vielen anderen großen Irrtümer der Technikgeschichte – vom Solarkraftwerk im All bis zum Geruchskino – für den Fortschritt bedeuten, lesen Sie ab Seite 64.

Wie nötig es gerade jetzt ist, sich den großen Irrtümern, ihrer Entstehungsgeschichte und ihren Lehren zu widmen, zeigt auch das Beispiel Gesichtserkennung. Im Juli 2011, also vor neun Jahren, berichteten wir zum ersten Mal groß über die Chancen und Risiken der Technologie. Im April 2016 dann griffen wir die Befürchtung von Forschern und Bürgerrechtlern auf, dass Algorithmen bestimmte Gruppen der Gesellschaft diskriminieren können. Aber erst jetzt, im Zuge der Proteste in den USA nach dem Polizeimord an George Floyd, ziehen Firmen und Behörden ernsthafte Konsequenzen. Ab Seite 28 schreiben wir, wie groß der Widerstand trotzdem noch ist – vor allem von Amazon.

Ich begrüße Sie in unserer August-Ausgabe.

Ihr

Robert Thielicke