MIT Technology Review 9/2020
S. 104
Fundamente
Jubiläum

Von Los Alamos nach Moskau

Vor 25 Jahren wurden zentrale Spionage-Akten aus dem Kalten Krieg veröffentlicht – und ein renommierter Biophysiker als KGB-Agent enttarnt.

Im August 1945 fielen die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Die USA schienen der restlichen Welt uneinholbar enteilt. Doch schon vier Jahre später konnte auch die ­Sowjetunion ihre erste Atombombe testen. Wie war das möglich?

Die Antwort liegt auf der Hand: Spionage. Der prominenteste Sowjetspion war der deutsch-britische Kernphysiker Klaus Fuchs. Erst 1995 kam heraus, dass er nicht der erste und möglicherweise nicht einmal der wichtigste war. Unabhängig von ihm lieferte auch Theodore Hall (1925–1999) wichtige Details der Plutoniumbombe „Fat Man“ nach Moskau.

Hall war ein mathematisches Wunderkind und erst 18 Jahre alt, als er in Los Alamos angeheuert wurde. Er fürchtete, die USA könne nach dem Krieg zu einer „reaktionären Macht“ aufsteigen und den Rest der Welt mit ihrer Waffe erpressen. Und so kritzelte er technische Details mit unsichtbarer Tinte aus Milch an den Rand von Zeitungen und spielte sie einer russischen Kontaktperson in New York zu.

Auf diese Weise erfuhr Moskau mutmaßlich zum ersten Mal überhaupt von Los Alamos. Und das „Implosions“-Prinzip zum Start der Kettenreaktion war für die sowjetischen Kernphysiker so neu, dass es noch nicht einmal ein russisches Wort dafür gab. Die Enthüllungen hätten ihnen mindestens zwei bis drei Jahre Entwicklungszeit gespart, schätzt der US-Journalist Michael Dobbs.

Theodore Halls Foto auf seinem Dienstausweis für Los Alamos.
Foto: Los Alamos National Laboratory/Science Source/AKG Images

Die Informationen gelangten über ganze normale Telegrafenleitungen nach Moskau. Die Amerikaner hörten sie zwar ab, aber zur Verschlüsselung nutzten die Sowjetagenten ein Codebuch aus Zufallszahlen („One Time Pad“). Das Verfahren war damals unknackbar – es sei denn, jemand machte einen Fehler und verwendete dieselben Codes mehrmals. Nach jahrelanger Suche fand der US-Geheimdienst im Rahmen des Projekts ­„Venona“ tatsächlich sieben solcher Fehler. Damit konnte er rund 3000 Telegramme entschlüsseln, etwa ein Prozent des gesamten Aufkommens.

Die entzifferten Nachrichten lieferten unter anderem Hinweise auf die Spio­nagetätigkeit von Fuchs und Hall. Um diese vor Gericht verwenden zu können, hätte das FBI allerdings zugeben müssen, den Schriftverkehr der Sowjets mitlesen zu können. Und so etwas tun Geheimdienste nur ungern. Also versuchte das FBI 1950, mit Verhören an Geständnisse zu kommen. Bei Fuchs hatte es damit ­Erfolg. Er wurde zu 14 Jahren Haft verurteilt, von denen er neun absitzen musste. Nach seiner Begnadigung siedelte er in die DDR über.

Doch Hall behielt die Nerven, stritt ­alles ab und wurde nie wieder belangt. 1962 wanderte er nach Großbritannien aus, wo er eine große Karriere als Biophysiker startete. Erst als die Venona-Akten 1995 veröffentlicht wurden, kam sein Vorleben ans Licht. In einem ­Interview sagte er über diese Zeit: „Ich war unreif, unerfahren und viel zu sehr von mir überzeugt. Ich sehe heute, dass ich in meinen Einschätzungen leicht hätte falsch liegen können und in einigen Dingen tatsächlich falsch lag, besonders bei meiner Sicht auf das Wesen des sowjetischen Staats. Aber alles in allem glaube ich immer noch, dass der anmaßende Junge damals die Sache richtig angepackt hat. Ich bin nicht länger diese Person, aber ich schäme mich auch nicht für sie.“

Insgesamt fanden sich in den entschlüsselten Telegrammen die Decknamen von 300 US-Bürgern, die ebenfalls für den KGB gearbeitet hatten. Nur hundert davon wurden bis heute identifiziert. Diese Gruppe überschneidet sich nach Erkenntnissen des Historikers Harvey Klehr bemerkenswerterweise praktisch überhaupt nicht mit der Menge an Menschen, die der Kommunistenjäger Joseph McCarthy der sowjetischen Spionage bezichtigt hatte.

Die bizarrste Erkenntnis der Venona-­Akten dürfte aber die Tatsache sein, dass die Geheimhaltung völlig unnötig war. ­Spätestens 1948 wusste der KGB nämlich, dass sein Code gebrochen worden war – und das FBI wusste, dass der KGB dies wusste. Wenig hätte also dagegengesprochen, die Informationen vor Gericht gegen Hall zu verwenden.

Dies hätte auch ein anderes Licht auf die Rolle des Ehepaars Julius und Ethel Rosenberg geworfen, das 1953 wegen ­Spionage hingerichtet wurde. Im Verhältnis zu den Taten Halls war ihr Beitrag weit weniger gravierend. „Wenn das Venona-Material damals öffentlich bekannt gewesen wäre, wäre es sehr unwahrscheinlich, dass sie die Todesstrafe bekommen hätten“, sagte Historiker Klehr in einer Fernsehdokumentation. Doch dem FBI war die Geheimhaltung eines ohnehin längst offenen Geheimnisses wichtiger.  Gregor Honsel