MIT Technology Review 9/2020
S. 92
Meinung

Das Chaos mit System

Von der VHS-Kassette bis zu Apples Ladekabel: Standardstreits mögen für Konsumenten nervig sein – aber sie sind Bedingung für Innovation und wirtschaftlichen Erfolg.

Schon mal Filme auf einer Flexplay-DVD geguckt? Oder Musik gehört auf einem Drahtton-Gerät? Wahrscheinlich nicht, denn beide Erfindungen blieben Episoden einer endlosen Folge kurioser Speichermedien. Heute scheint es uns befremdlich, dass man Mitte der Neunziger Leih-DVDs für eine schlaue Idee hielt, die sich nach 48 Stunden selbst zerstörten, damit man sie nicht mehr zurückgeben musste. Oder dass man Ende des 19. Jahrhunderts Töne auf einem Draht statt auf einem Band oder einer Scheibe aufzeichnen wollte. Und als das Allerbefremdlichste erscheint uns, dass Unternehmen trotz solcher Flops immer wieder versuchen, eigene Standards durchzusetzen.

Was sich durchgesetzt hat, wirkt im Rückblick hingegen als logische Folge technischer Überlegenheit. Aber so einfach ist es nicht. Letztlich laufen diese Standard-streits stets nach demselben Muster ab: Mehrere Unter­nehmen ­wollen gleichzeitig ein Problem lösen, und alle ­wissen: Am Ende setzt sich nur einer durch. Und alle wollen dieser eine sein.

Es folgt eine für alle Seiten anstrengende Zeit des Kon­kurrierens. Aber es ist eine wichtige Zeit, die inhärent zu ­Innovationen gehört – auch wenn sich nicht immer die beste Lösung durchsetzt. Und es ist eine Zeit, in der wir ­Nutzer mitentscheiden können, was wir wollen.

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Leider wird das selten so gesehen. Im Regelfall jammern alle: Hört endlich auf mit euren Streitereien, einigt euch einfach! Beim Mobilfunkstandard 5G klappte es schließlich auch. Weshalb nicht immer so?

Ein wichtiger Grund ist, dass sich nicht immer so eindeutig wie beim Mobilfunk abzeichnet, was als Nächstes kommt. Doch bevor klar ist, wie die technische Lösung für ein Problem aussehen könnte, ergibt es keinen Sinn, über Standards zu diskutieren. Gibt es eine technische Lösung und erhebt man sie zum Standard, wartet das nächste Problem: Bessere oder billigere Varianten haben kaum noch eine Chance.

Wer sich beispielsweise den Kampf um die Kompaktkassette genauer anschaut, versteht, wie viel Strategie und Taktik, wie viel Aufwand und Risikobereitschaft dahinterstecken, einen neuen Standard durchzusetzen – und warum es gut ist, dass Unternehmen immer wieder dieses Wagnis eingehen.

In diesem Fall hat Philips diese Rolle übernommen. Als der Konzern im August 1963 die Kompaktkassette und den zugehörigen „Pocket Recorder“ vorstellte, war das keineswegs die erste Innovation ihrer Art. Schon Ende der 1950er-Jahre versuchten verschiedene Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks, die klobigen Spulen-Tonbänder durch ein mobileres Format abzulösen. Daraus entstanden Ein- oder Zweiloch-Kassetten verschiedener Größe. In den USA war ab 1964 bis in die 1980er-Jahre hinein eine Achtspur-Kassette erfolgreich, die sogenannte Stereo 8 der Lear Jet Corporation, in der unter anderem Ampex, Ford Motor Company, General Motors, Motorola und die Radio Corporation of America vertreten waren. Und es hätte gut geschehen können, dass sich diese als weltweiter Industriestandard durchsetzt.

Doch die Urheber verlangten hohe Lizenzgebühren – zu hoch, fanden Philips und Grundig, die daraufhin beschlossen, gemeinsam ein „Euro“-Kassettensystem zu entwickeln. Parallel dazu entwickelte Philips im Stillen allerdings seine eigene Kompaktkassette und informierte Grundig erst kurz vor deren Erscheinen darüber, dass es das Konsortium verlassen würde. Grundig könne sich aber gern an der Entwicklung des Pocket Recorder beteiligen. Die Verantwortlichen bei Grundig reagierten wie trotzige Kinder: Jetzt erst recht nicht. Und entwickelten den eigenen Standard „DC International“, der sich aber nicht mehr durchsetzen konnte.

Philips hingegen wurde womöglich durch Zufall oder Tücke daran gehindert, den gleichen Fehler wie das Stereo-8-Konsortium zu machen und abschreckend hohe Lizenzgebühren zu verlangen: Japanische Konzerne begannen kurzerhand, den Pocket Recorder in unterschiedlichen Varianten nachzubauen. Als Philips versuchte, das zu stoppen und mit Sony über Lizenzgebühren verhandelte, behauptete der damalige Sony-Chef Norio Ohga (der offenbar vom Streit zwischen Grundig und Philips wusste), dass Grundig die Lizenzen für DC International kostenlos einräume – was vermutlich gelogen war. Philips gab nach und verschenkte seine Lizenzen, bestand aber auf einer internationalen Standardisierung. Das war der Durchbruch: Auf der ganzen Welt wurden laut Philips zwischen 1963 und 1988 etwa drei Milliarden Kompaktkassetten verkauft. Letztlich hat sich ein Standard durchgesetzt, an dem alle verdienten – auch Grundig mit entsprechenden Kassettenrekordern. Stereo 8 hatte quasi keine Bedeutung mehr.

Nur kurze Zeit später zeigte der Standardstreit um Heimvideorekorder erneut, dass eine großzügige Lizenzvergabe zum Erfolg führen kann: Obwohl es bereits zu Beginn der 1970er-Jahre erfolgreiche Videoformate gab, kam das japanische Unternehmen JVC 1976 mit dem VHS-Format hinzu und Sony mit Betamax. Doch Sony verlangte hohe Gebühren für den Nachbau von Betamax-Geräten, während JVC großzügiger lizenzierte. 1986 hatte VHS einen Marktanteil von 93 Prozent. Im Rückblick höhnen viele, mit VHS habe sich die schlechteste technische Lösung durchgesetzt. Das mag sein. Aber dahinter steckte offenbar das bessere Geschäftsmodell.

1992 hat Philips übrigens erneut versucht, mit der Digital Compact Cassette einen Standard zu setzen. Diesmal vergeblich – die Bandlaufwerke hatten sich überlebt und Sony mit der Mini Disc eine Zeit lang die Nase vorn. Dann kam auch schon MP3 um die Ecke. War es deshalb falsch von Philips, die gute alte Kassette digitalisieren zu wollen? Nein, es hätte ja auch funktionieren können.

Doch selbst wer schon so etwas wie einen Quasistandard gesetzt hat, ist vor Gegenangriffen nicht gefeit. Das zeigt sich beim Streit um Ladestecker für E-Autos. Die japanischen Hersteller Nissan und Mitsubishi dominierten Anfang der 2010er-Jahre den europäischen Markt. Damit war auch ihr Gleichstrom-Schnellladestandard Chademo alternativlos. Doch die großen europäischen und amerikanischen Konzerne wollten einen eigenen Standard namens CCS durchsetzen. Obwohl sie zu diesem Zeitpunkt noch kein einziges E-Auto mit dieser Lademöglichkeit anzubieten hatten, gelang es ihnen, Deutschland und die EU zu überzeugen, CCS für neue Schnellladesäulen vorzuschreiben. Die Kunden bereits existierender japanischer Modelle konnten oft sehen, wo sie ­blieben. Und Tesla baute, völlig unbehelligt von allen Kooperationsgedanken, sein eigenes Schnellladenetz.

Ein klarer Fall von Ellenbogen-Industriepolitik zulasten der Allgemeinheit, könnte man meinen. Heute gibt es in Deutschland rund 3500 Ladepunkte mit CCS und 2400 mit Chademo. Das Geld für die vielen Doppelinstallationen ließe sich sicherlich sinnvoller in ein dichteres Ladenetz investieren. Doch auch hier belebt Wettbewerb das Geschäft: Japanische und chinesische Autobauer haben kürzlich den Nachfolgestandard Chademo 3.0 („ChaoJi“) vorgestellt, der bis zu 500 Kilowatt leisten soll. Für die kommende CCS-Generation sind hingegen nur 350 Kilowatt im Gespräch. Und hätte Tesla der Konkurrenz nicht mit seinem Alleingang Beine gemacht – wer weiß, wo das Gleichstromladen heute stünde?

Letztlich ist die Frage: Was sind die Konsumenten bereit mitzumachen? Das Nutzerverhalten ist der Grund, weshalb sich Apple bis heute erfolgreich weigern kann, sich einem ­Ladestandard für Mobiltelefone anzuschließen, und seinen Kunden stattdessen teure und proprietäre Lightning-Kabel verkauft. Wieso macht Apple das? Weil es funktioniert! (Und natürlich, weil die Politik es zulässt. Die EU hat sich auf die freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie verlassen statt auf eine rechtlich verbindliche Vorgabe.) Apple argumentiert, Standards würden „Innovation behindern statt ermutigen“. Tatsächlich hatte Apple schon zwei Jahre vor der offiziellen Verabschiedung des USB-C-Standards das eigenen Ladesystem mit seiner schlankeren Buchse vorange­trieben.

Solche Streits mögen nervig sein, sind aber eine Form angewandter Spieltheorie. Wenn es schiefgeht, ist die Schadenfreude groß. Aber ohne Risiko keine Innovation.