MIT Technology Review 1/2021
S. 92
Meinung
Foto: Shutterstock/aapsky

Hauptsache billig

Die Luftfahrtbranche will 2021 beginnen, ihre Emissionen zu kompensieren. Doch die Pläne strotzen vor Ungereimtheiten und dreisten Rechentricks.

Am Beispiel der Luftfahrt lässt sich schön beobachten, was passiert, wenn die Politik der Selbstverpflichtung einer Branche vertraut. Eigentlich wollte die EU schon 2012 Airlines zur Teilnahme am europäischen Emissions­handel verpflichten (siehe TR 11/2019, S. 32). Doch weil die Luftfahrt ein internationales Geschäft ist, ließ sich das nicht weltweit durchsetzen. Derzeit müssen Fluggesellschaften nur für innereuropäische Flüge Zertifikate kaufen. Für den Rest der Welt entwickelte die Internationale Luftfahrtorganisation ICAO ein eigenes Kompensationssystem namens Corsia (Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation). Die erste Phase beginnt 2021. Ein Blick auf die ­Details verrät, dass Corsia vor allem von einem Gedanken getrieben ist: so billig wie möglich davonzukommen. Dazu drei Beispiele:

Erstens: Tricksen mit der Basis

Die ICAO will zunächst gar nicht sämtliche Emissionen kompensieren, sondern nur deren Anstieg. Ursprünglich sollte der Durchschnitt aus den Jahren 2019 und 2020 als Basis dienen. Doch weil der Flugverkehr 2020 durch die Corona-Pandemie zusammenbrach und die Vorgabe dadurch plötzlich viel ambitionierter wurde, konnte die Branche 2019 als alleiniges Basisjahr durchsetzen. „Da man davon ausgeht, dass sich der Sektor nicht bis 2023 auf Vorkrisenniveau erholen wird, wird Corsia vermutlich in der ersten Phase ein zahnloses Instrument bleiben“, sagt der Emissionshandel-Experte Carsten Warnecke vom Kölner NewClimate Institute, das an einschlägigen Studien für das Umweltbundesamt beteiligt ist.

Zweitens: Intransparente Entscheidungen

Die Luftfahrtbranche will nicht an einem Emissionshandel mit einer festen Obergrenze teilnehmen, sondern setzt auf Kompensationen: Für jede Tonne CO2 wird irgendwo auf der Welt ein Projekt finanziert, das die entsprechende Menge wieder einsparen soll – etwa durch Aufforstungen, Biogasanlagen oder sparsame Holzkocher in Entwicklungsländern. Solche Vorhaben werden von verschiedenen Organisationen zertifiziert. Die größte davon ist der Clean Development Mechanism (CDM) der UN. Dessen Zertifikate waren bis 2013 auch im Rahmen des EU-Emissionshandel handelbar. Danach verloren sie an Bedeutung, weil es Zweifel an ihrer Seriosität gab, sie sich schlecht mit der Idee einer festen Emissionsobergrenze vertrugen und ein Überangebot die Preise kaputt machte. Was die ICAO jetzt als Lösung verkauft, ist – zumindest aus europäischer Sicht – ein Zombie: nicht mehr wirklich lebendig, aber auch kaum totzukriegen.

Weshalb sich die ICAO trotzdem von dieser schon leicht müffelnden Leiche angezogen fühlt, zeigt ein Blick auf die Preise: Die Kompensation einer Tonne CO2 kostet via CDM derzeit keine 30 Cent. Zum Vergleich: Im europäischen Emissionshandel waren zu Redaktionsschluss etwa 27 Euro für die Tonne fällig, eine freiwillige Kompensation über die gemeinnützige Organisation Atmosfair kostet aktuell 23 Euro, Autofahrer müssen in Deutschland künftig 25 Euro zahlen (siehe S. 36).

Wie kann eine CO2-Kompensation bei solchen Spottpreisen funktionieren? Ganz einfach: gar nicht. Solche Dumpingkurse können nur entstehen, wenn sich ein Kompensationsprojekt auch ohne den Verkauf von Zertifikaten rechnet – zum Beispiel, weil eine neu gebaute Biogasanlage so viel Brennstoff einspart, dass sie schon aus sich heraus wirtschaftlich ist. Oder es andere Erlösquellen gibt, etwa freiwillige Kompensationen. Das bedeutet: Das Geld aus Zertifikaten fließt in ohnehin bereits bestehende Projekte, es wird also kein Gramm CO2 zusätzlich ­eingespart. „Wenn es billig ist, dient es nicht dem Klima, und wenn es dem Klima dient, ist es nicht billig“, fasst Carsten Warnecke zusammen.

Immerhin hat die ICAO eine gewisse Leitplanke eingezogen: Sie akzeptiert nur Projekte, deren erste Zertifizierungsperiode frühestens im Januar 2016 begann. So sollen verstärkt Vorhaben zum Zuge kommen, die eigens mit Blick auf Corsia aufgesetzt wurden. „Insgesamt ist das ein ganz guter Kompromiss“, meint Warnecke – zumindest für die Pilotphase bis 2023, weitere Regeln stehen noch nicht fest.

Das Klimaprogramm Corsia ist bis 2027 freiwillig. Danach gibt es weiterhin Aus­nahmen für arme Länder oder solche mit wenig Luftverkehr (grau).
Quelle: Klimaschutz-Portal.aero

Trotzdem stehen weiterhin Schlupflöcher von der Größe der Lufteinlässe von A-380-Triebwerken offen. Neben dem CDM lässt die ICAO nämlich noch eine Handvoll weiterer Zertifizierungsorganisationen zu. Darunter befindet sich zwar der  Gold Standard, der einen guten Ruf genießt, aber eben auch deutlich weniger ambitionierte. Dabei ist eine sorgfältige Zertifizierung das A und O der Kompensation. Bei einer Aufforstung etwa muss sie unter anderem sicherstellen, dass neue Wälder mehr Nutzen als Schaden für Natur und Menschen bringen. Und dass sie CO2 wirklich dauerhaft speichern. Schließlich hat sich 2020 wieder einmal gezeigt: Wälder können abbrennen.

„Die Zulassung von Zertifizierern durch die ICAO ist ziemlich intransparent und manchmal rätselhaft“, so War­necke. „Die Kriterien decken die wichtigsten Punkte ab, sind aber nur wenig ausformuliert und daher interpretations­bedürftig. Es entsteht zumindest der Eindruck, dass auch ­politische Motive eine Rolle spielen.“

Die Folge ist abzusehen: „Ein paar Airlines werden vielleicht für PR-Zwecke ein paar Gold-Standard-Zertifikate ­kaufen, die große Masse wird aber die billigsten Zertifikate kaufen“, fürchtet Warnecke. Er rechnet ­damit, dass die Preise dafür zunächst weiterhin unter einem Euro pro Tonne liegen ­werden. Die Lenkungswirkung wäre praktisch null.

Ebenfalls noch ungeklärt ist, wie sich vermeiden lässt, dass die CO2-Einsparungen eines Projekts doppelt angerechnet werden – einmal für die Minderungsziele des jewei­ligen Landes im Rahmen des Pariser Abkommens, einmal durch den Verkauf von Zertifikaten im Rahmen von Corsia.

Drittens: Ignorieren der Wissenschaft

Wie egal der ICAO ein ehrlicher Umgang mit den eigenen Emissionen ist, zeigt sich am deutlichsten beim Radiative Forcing Index (RFI). Er gibt an, in welchem Ausmaß die Klimawirkung von Flugzeugabgasen in großer Höhe über die des reinen CO2-Ausstoßes hinausgeht. Die ICAO ignoriert diesen Faktor schlichtweg – mit einer bemerkenswerten Begründung: „Die wissenschaftliche Community hat bisher noch keinen Konsens erreicht. Deshalb wird die ICAO einen solchen Faktor erst übernehmen, wenn die Wissenschaft eine generelle Übereinstimmung gefunden hat.“

In der Tat kursieren unterschiedliche Werte für den RFI. Sie liegen etwa im Bereich zwischen 2 und 5. Es gibt also durchaus einen Konsens, nämlich dass der RFI mindestens 2 beträgt. Der Weltklimarat IPCC setzt einen Faktor von 2,7 an. Damit wäre man gleichzeitig konservativ und wissenschaftlich auf der sicheren Seite. Dass sich die ICAO aber mit dem Verweis auf angebliche wissenschaftliche Uneinigkeit nicht einmal die Untergrenze von 2 zu eigen macht, ist schon ziemlich dreist.

Fazit: Corsia enthält so viele Löcher, Ungereimtheiten und bewusste Tricksereien, dass die ICAO das Recht verwirkt hat, als seriöser Partner beim Kampf gegen den Klimawandel ernst genommen zu werden. Wenn die Politik das nächste Mal in Versuchung gerät, einer Branche selbst die Lösung der von ihr mitverursachten Probleme zu überlassen, sollte sie das Beispiel sehr aufmerksam studieren.