MIT Technology Review 2/2021
S. 106
Kolumne
Illustration: Marei Stade

Der Futurist

Hinterm Mond

Irgendetwas fiel laut scheppernd zu Boden, als David schlaftrunken nach dem vibrierenden Handy tastete. Von Eva, die neben ihm lag, kam nur ein verschrecktes Grunzen. Es war 3:19 Uhr.

„Ja?“, krächzte er in den Hörer.

„Demain, kommen Sie sofort rein.“

Bevor er antworten konnte, hatte sein Chef schon aufgelegt. Die Berliner Straßen waren menschenleer, in der Zentrale des Bundesnachrichtendienstes aber herrschte Hochbetrieb.

„Ah, David“, sagte Nettelbeck, sein Kollege. „Kahl erwartet dich schon.“

Bruno Kahl war der Chef des BND. Normalerweise sah man kaum etwas von ihm. Im Konferenzsaal waren eine Handvoll Leute, auf die Leinwand war eine graue Kraterlandschaft projiziert. Zwischen den Kratern waren zwei runde und zwei rechteckige Strukturen erkennbar. Davor lagen noch fünf längliche Elemente. Sie sahen aus wie weiße Zigarren.

„Diese Fotos von der dunklen Seite des Mondes haben uns die Kollegen zukommen lassen“, sagte Kahl, der David knapp zunickte und auf die Zigarren zeigte. „Wir glauben, dass dies hier Mittelstreckenraketen vom Typ DF-21 sein könnten.“

David traute seinen Ohren nicht. Raketen? Auf dem Mond?

„Demain“, sagte Kahl und riss David aus seinen Gedanken. „Sie sind der Einzige hier, der ein Astronautentraining absolviert hat.“

„Ähm, ja, aber das ist schon eine Weile her.“

„Morgen starten Sie in Kourou. Wir müssen wissen, ob die Chinesen auf dem Mond eine Vormachtstellung anstreben.“

Der Start der Ariane 6 verlief glatt und drei Tage später schwenkte David gemeinsam mit drei Esa-Astronauten in die Mondumlaufbahn ein. Die chinesische Station ­befand sich am Südpol-Aitken-Becken, einer Gegend mit Wasser- und Metallvorkommen. Der Landeplatz war etwa einen Kilometer entfernt. Sofort fuhren David und der französische Astronaut Luc Chermaigne mit dem Rover zu den Raketen. Sie wollten keine Zeit verlieren. Sie gingen davon aus, dass die Chinesen versuchen würden, sie zu stoppen. Aber nichts geschah.

Luc und er beschlossen auch noch, sich in der Mondbasis umzusehen. Ihnen fiel auf, dass keine chinesische Flagge gehisst war. Am Eingang war ein Peace-Zeichen an die Wand gesprüht. Und noch immer war niemand zu sehen. Luc drückte auf den Signalknopf am Eingang. Wenige Augenblicke später erschien auf dem Monitor ein Gesicht. Es war ein Chinese, aber er sah merkwürdig aus: Er trug Dreadlocks und ein Stirnband. Lächelnd sagte er etwas, begriff aber, dass sie nicht auf seine Frequenz getunt waren. Mit Handzeichen signalisierte der Chinese, dass er ihnen öffnen werde. Selbst durch das Visier konnte David Lucs hochgezogene Augenbrauen erkennen. Was zum Teufel war hier los?

Das Tor öffnete sich. Als die Schleuse mit Luft gefüllt war, legten sie die Raumanzüge ab. Die hintere Schleusentür öffnete sich und im Eingang erschienen zwei Männer und zwei Frauen. Sie trugen weite Kleidung mit Batikmustern und Blumen im Haar. Eine der Frauen hatte eine Gitarre umhängen.

„Willkommen in der Kommoone 1“, rief der Chinese mit den Dreadlocks. „Wir freuen uns über euren Besuch!“

David war sprachlos.

„Äh“, sagte Luc. „Wir sind wegen der Raketen hier.“

„Ach die“, sagte die Frau mit der Gitarre. „Macht euch keine Sorgen. Wir lehnen Krieg ab.“

„Und eure Regierung? Was sagt die dazu?“

„Interessiert uns schon lange nicht mehr. Wir leben hier echten, wahren Kommunismus.“

„Aber… was ist, wenn sie kommen?“

„Sollen sie nur“, sagte der Dreadlock-Astronaut und zeigte auf die Raketen. „Wir haben ein gutes Abschreckungsmittel.“ Jens Lubbadeh