MIT Technology Review 2/2021
S. 10
Aktuell
Tinnitus-nahe Töne über den Kopfhörer und eine Stimulation der Zunge können gegen die quälenden Geräusche helfen.
Foto: Neuromod Devices

Die Zunge hört mit

Aktivieren elektrische Impulse die Zunge, während Töne ins Gehör fließen, könnte sich Tinnitus langfristig lindern lassen.

Millionen Menschen auf der Welt werden von quälenden Geräuschen geplagt, die nur sie hören können. Ein Tinnitus macht sich oft als schrilles Pfeifen bemerkbar. Andere hören ein Zischen, Kreischen oder ein kon­stantes Summen. Manche leiden so massiv unter dem Dauerton, dass sie Schlafstörungen und Depressionen bekommen. Das will der Neurologe Berthold Langguth, Leiter des Tinnituszentrums Regensburg, mit einer neuen Kombinationstherapie ändern: Er programmiert das Gehirn mithilfe von Geräuschen und elektrischen Impulsen schonend um.

„Hinter unserem Ansatz steckt die gut belegte Erkenntnis, dass Tinnitus oft durch eine Hörstörung entsteht“, sagt Langguth. Dadurch werden die defekten Nervenzellen, immer empfindlicher und aktiver. „Wenn das Gehör bestimmte Frequenzen nicht mehr wahrnimmt, kompensiert es dies durch eine stärkere Reaktion im Bereich genau dieser Frequenzen“, erklärt er. Die Neuronen feuern im Gleichtakt und erzeugen so den Tinnitus-Ton. Wer auf dem rechten Ohr hohe Frequenzen schlecht hört, entwickelt einen Tinnitus-Ton genau in diesem hohen Frequenzbereich.

Die Regensburger Forscher behandeln Tinnitus-Patienten, indem sie ihnen per Kopfhörer Töne und Geräusche vorspielen, deren Frequenzen mit den problematischen Frequenzen übereinstimmten oder nahe bei ihnen lagen. Parallel dazu stimulierten sie berührungsempfindliche Neuronen in ihren Zungenspitzen mit leichten elektrischen Impulsen und versuchen dadurch, die überaktiven „Tinnitus-Neuronen“ dazu zu bringen, weniger zu feuern.

Was kurios klingt, hat einen plausiblen Grund: Einige Nervenbahnen aus der Zunge führen auch ins Hörzentrum. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Koppeln von Klang- und elektrischen sensorischen Reizen die Tinnitus-Gehirn­regionen empfänglich für eine Umprogrammierung macht.

In Langguths kürzlich in Science Translational Medicine veröffentlichter klinischen Studie sollten sich 326 Probanden mit einem Neuromodulationsgerät selbst behandeln: über zwölf Wochen täglich eine Stunde lang. Sie waren in drei Gruppen eingeteilt, die jeweils mit verschiedenen Tönen stimuliert wurden.

Bei rund 80 Prozent der Teilnehmer, die ihr Gehör mindestens 36 Stunden stimuliert hatten, verringerte sich die Belastung durch den Tinnitus – am stärksten, wenn die eingespielten Töne den Frequenzen des Tinnitus-Tons nahekamen. Diese Teilnehmer schliefen besser, konnten sich besser konzentrieren und litten weniger unter Ängsten und Frustrationen. Kurz: Ihre Lebensqualität verbesserte sich. Diese positiven Effekte hielten bei drei von vier Patienten auch noch ein Jahr nach dem Therapieende an.

Diese Ergebnisse machen Mut, denn es gibt bislang keine Therapie, die den Tinnitus dauerhaft reduzieren oder gar heilen kann. Gut etabliert ist bislang nur die kognitive Verhaltenstherapie. Sie zielt aber in erster Linie auf einen besseren Umgang mit dem Tinnitus ab, indem sie eine Art „Weghören“ trainiert. Ähnlich scheint eine Musiktherapie zu wirken, bei der Patienten den quälenden Ton selbst singen oder summen.

Therapiegeräte versuchten hingegen bislang, die Geräuschentstehung durch reines Einspielen von Tönen zu unterbrechen. Hoffnung machte vor elf Jahren etwa ein Verfahren von Peter Tass am Forschungszentrum Jülich. Sein Stimulator soll die irrtümlich im Gleichtakt feuernden Nervenzellen aus dem Tritt bringen, indem er Töne ober- und unterhalb der Frequenz vorspielte (TR 4/2010, S.12). Doch das Gerät, das von Adaptive Neuromodulation auf den Markt gebracht wurde, ist nicht mehr erhältlich. Neben technischen Schwierigkeiten war es nur auf den tonalen Tinnitus mit einem zentralen störenden Ton ausgelegt. Bei der atonalen Variante, die die Pa­tienten mit Rauschen, Zischen oder Kreischen quält, konnte er nicht helfen. Langguths Therapie soll dagegen bei beiden Tinnitus-Arten wirken.

„Prinzipiell ist ein solcher kombinierter Stimulationsansatz sehr sinnvoll“, bestätigt der Hals-Nasen-Ohren-Arzt Hannes Wurzer vom Tinnitus-Zentrum München. Eine zusätzliche Stimulation von Zunge, Hals oder Nacken bedeute möglicherweise ein schnelleres und besseres Ansprechen der Pa­tienten. „Da es keine Placebogruppe gab, bleibt offen, ob der Einfluss einer solchen Erwartung in der vorliegenden Studie ausgeschlossen wurde.“ Oft führe allein schon die Aufnahme in eine Studie bei vielen Patienten dazu, dass sich die psychologische Belastung durch den Tinnitus reduziere. Außerdem hat Wurzer Bedenken bezüglich der Akzeptanz der Methode: „Die Stimulation an der Zunge ist nicht sehr angenehm.“

Langguth hält Placeboeffekte angesichts der beobachteten Langzeiteffekte der Therapie für unwahrscheinlich. Zudem seien etwaige unangenehme Empfindungen der Zungen­stimulation kein großes Thema. „Ich war erstaunt, wie gut das die Patienten toleriert haben. Wichtig ist natürlich, dass die Stimulation nicht zu intensiv wird“, sagt der Neurologe. Der Gerätehersteller Neuromod Devices, der die Studie gesponsert hat, arbeitet unterdessen an einer kabellosen Zungenstimulation. Christian Wolf