MIT Technology Review 3/2021
S. 104
Fundamente
Jubiläum

Die dunkle Seite der Sonne

Vor hundert Jahren legte ein solarer Magnetsturm zahlreiche Funk- und Kabelverbindungen lahm. Heute wären die Folgen noch gravierender.

Mitte Mai 1921 fegte der größte solare Magnetsturm des 20. Jahrhunderts durch die Erdatmosphäre. Er ließ weltweit das Telegrafie- und Telefonnetz zusammenbrechen und verursachte Feuer in technischen Anlagen. Überall wurden Polarlichter beobachtet. Kommunikationskanäle zeigten seltsame Phänomene: Bei manchen Funkverbindungen verringerte sich die Reichweite, bei anderen stieg sie hingegen. Telegrafenleitungen funktionierten durch induzierte Ströme teils bei abgeklemmter Stromversorgung weiter.

Dazu zwei schlechte Nachrichten: Erstens treten intensive Störungen des Erdmagnetfeldes oft in 100-Jahres-Zyklen auf – bald könnten wir also wieder dran sein. Zweitens ist die Welt heute nicht unbedingt besser gerüstet als damals. Im Gegenteil: Wir sind inzwischen stärker von elektrischer Infrastruktur abhängig, also drohen schlimmere Folgen.

Ein „koronaler Massenauswurf“ der Sonne kann auf der Erde große Schäden anrichten.
Foto: NASA Goddard Space Flight Center

Die Ursache geomagnetischer Stürme sind Schockwellen des Sonnenwinds. Das Phänomen beginnt mit verdrillten Magnetfeldern infolge unterschiedlicher Rotationsgeschwindigkeiten zwischen den Polen und dem Äquator der Sonne, erklärt Christian Möstl, der an der österreichischen Akademie der Wissenschaften eine einschlägige Forschungsgruppe leitet. Erhöht sich die Energie so stark, dass sie die Schwerkraft der Sonne überwindet, lösen sich Milliarden Tonnen schwere Plasmaschläuche: ein koronaler Massenauswurf (KMA).

An der Erde angekommen drückt der KMA die Magnetos­phäre auf der Tagseite zusammen. Auf der Nachtseite verlängert sich unser geomagnetischer Schweif weit über die Mondbahn hinaus. Das Phänomen dauert zwischen einem und drei Tagen.

Schon bevor der Partikelsturm die Erde erreicht, drohen Schäden am Satellitennetz. Wegen unterschiedlicher Konstruktionsprinzipien ließen sich diese schwer vorhersagen, schrieb die britische Royal Academy Of Engineering 2013 in einem Report zu Infrastruktur-Risiken durch extremes Weltraumwetter. Sie geht von einem vorübergehenden Ausfall von bis zu zehn Prozent der Flotte aus – permanente Schäden sollen redundante Systeme verhindern.

Eine erhöhte Elektronendichte in der Ionosphäre stört auch Hochfrequenz-Funkübertragungen, etwa für Langstreckenflüge. Noch gravierender sind induzierte Ströme bei Spulen und Leistungstransformatoren – beispielsweise im Stromnetz – sowie in langen Kabelnetzen. Unterseekabel aus Glasfaser sind zwar nicht so anfällig wie ihre Vorgänger aus Kupfer, eine Achillesferse stelle jedoch die Stromversorgung optischer Repeater dar, die das Signal verstärken. Die parallel zur Glasfaser verlegten Stromkabel seien ebenfalls anfällig für induktive Störungen, so die Royal Academy.

Am 23. Mai 1967 löste ein Magnetsturm beinahe den Dritten Weltkrieg aus: Als gleichzeitig alle drei Radaranlagen ihres Frühwarnsystems ausfielen, gingen die US-Militärs von einem gezielten Störangriff der Sowjetunion aus und versetzten die nukleare Bomberflotte in Bereitschaft. Erst in letzter Minute identifizierten sie einen Sonnensturm als Ursache. Am 4. August 1972 wiederum explodierten mitten im Vietnamkrieg vor der nordvietnamesischen Küste nahe Hon La mehr als 50 Seeminen der US-Navy innerhalb von 30 Sekunden – mutmaßlich ebenfalls wegen eines Sonnensturms. Sie sollten auf das Magnetfeld stählerner Schiffe reagieren, doch solche waren weit und breit nicht zu sehen.

Das größte Problem bleiben jedoch massive Störungen der Stromversorgung – wie bei einem kleineren Sonnensturm 1989, der in Quebec sechs Millionen Menschen neun Stunden ohne Strom ließ. Möstl denkt über Frühwarnsysteme nach, die derartiges zukünftig verhindern könnten.   Udo Flohr