MIT Technology Review 3/2021
S. 106
Kolumne
Illustration: Marei Stade

DER FUTURIST

Rückzieher

Es war eiskalt in Berlin an diesem Morgen des 24.Dezem­ber 2021. Stumpf blickte David Demain beim Joggen vor sich hin, sodass ihm die schwarzen Kugeln am Himmel fast nicht aufgefallen wären. Es mussten Hunderte sein, jede war groß wie ein Auto.

Über Nacht waren überall auf dem Planeten Himmels­objekte aufgetaucht: Kugeln, Pyramiden, Monolithen und Würfel. Jeder Versuch, sich den Gebilden mit Helikoptern zu nähern, endete damit, dass sie blitzschnell auswichen. Noch am selben Tag nahmen sie Kontakt auf: „Wir wollen mit euch kommunizieren“, tönte es aus den Himmelsobjekten. „Sendet uns in sieben Tagen einen Repräsentanten.“

Egal mit wem David sprach, auf welche Webseite er ging, es gab nur ein Thema: „Aliens fordern Weltpräsidenten. Wer spricht für die Erde?“

Die Vereinten Nationen beriefen eine Vollversammlung ein. Man schlug vor, einfach UN-Generalsekretär António Guterres zu den Aliens zu schicken. „Er hat keinerlei Entscheidungsgewalt“, lautete der Einwand der USA, dem sich Russland und China anschlossen. Die Angelegenheit wurde daraufhin dem UN-Sicherheitsrat übertragen, schließlich wisse niemand, ob die Außerirdischen in friedlicher Absicht kamen. China, Russland, Frankreich, Großbritannien und die USA ­blockierten sich gegenseitig mit Vetos, zudem wurde kritisiert, dass dieser exklusive Club nicht für die restlichen 190 Länder entscheiden könne. Das dürfe nur ein rechtmäßig gewählter Weltpräsident, so die Mehrheitsmeinung.

Mittlerweile waren vier Tage verstrichen und keine Einigung in Sicht.„Glaubst du, sie finden rechtzeitig einen Weltpräsidenten?“, fragte Eva und griff nach Davids Hand. Vor dem Fern­seher verfolgten sie die Dauerübertragung aus dem UN-Sitz in New York. Immer wieder traten übermüdete Abgesandte aus dem Gebäude und wurden sofort von Reportern umringt.

„Ich weiß es nicht“, sagte David. Wie viele andere auch hatte er sich die ganze Woche krankgemeldet. Kaum jemand ging noch zur Arbeit, denn niemand wusste, was am 31.12.2021 passieren würde. Vielleicht ging dann die Welt unter?

„Ich weiß nur, dass ich den Job nicht machen würde. Der Weltpräsident kann froh sein, wenn sie ihn gleich aufessen und nicht noch unschöne Experimente mit ihm machen.“

Am vorletzten Tag hatte sich die Generalversammlung endlich auf ein Wahlprozedere geeinigt. Jeder Kontinent sollte einen Kandi­daten stellen, aktive Mandatsträger waren nicht erlaubt. Jedes Land hatte eine Stimme. Derjenige, der zuerst zwei Drittel aller 193 Länder auf sich vereinte, würde die Welt vor den Außerirdischen vertreten.

Doch wie David dachten offenbar viele: Kaum jemand kandidierte. Als sich Donald Trump für den amerikanischen Kontinent meldete, brach Empörung aus. Auch Nordkoreas Versuch, die kleine Schwester Kim Jong-uns zu nominieren, stieß auf heftige Ablehnung.

Schließlich traten zwei Kandidaten an: für Europa Keith Richards, der Gitarrist der Rolling Stones, für Australien der Schauspieler Mel Gibson. Amy Adams, Hauptdarstellerin und Alien-Versteherin aus dem Film „Arrival“, sagte ihre Kandidatur kurzfristig ab.

Als Weltpräsident Richards schließlich rauchend und mit einer Gitarre behängt vor die schwebenden Pyramiden über New York trat und eine Abwandlung des Rolling-Stones-­Songs „Angie“ vortrug („Alien. Aaaaalien. When will those clouds all disappear?“), geschah etwas Unerwartetes: Die ­Pyramiden verschwanden. Ebenso alle anderen Raumschiffe weltweit.

Zurück blieb eine Nachricht der Pyramiden, Kugeln, ­Monolithen und Würfel: „Tut uns leid. Wir konnten uns leider nicht auf einen Vertreter einigen. Wir melden uns.“ Jens Lubbadeh