MIT Technology Review 5/2021
S. 98
Meinung
Ammoniak-Fabrik der BASF bei Ludwigshafen
Foto: BASF SE

Ammoniak statt Wasserstoff

Vieles spricht dafür, jeden verfügbaren Kubikmeter „grünen“ Wasserstoff in die Produktion chemischer Grundstoffe zu stecken, nicht in den Verkehr.

Wasserstoff gilt vielen offenbar als Lösung für sämtliche Probleme: Strom, Wärme, Mobilität. Doch dabei sind nicht alle Verwendungszwecke gleichermaßen gut geeignet. Die Unternehmensberatung Oliver Wyman hat sich in einer Studie einmal genauer angeschaut, wo grüner Wasserstoff erstens den größten Hebel hat, fossile Brennstoffe zu ersetzen und wo er zweitens am einfachsten einzusetzen ist (siehe Seite 8). Dabei kommt sie zu einem ziemlich eindeutigen, wenn auch überraschendem Ergebnis: Ammoniak (NH3).

Das giftige und stechend riechende Gas dient vor allem der Produktion von Kunstdünger und wird mittels Haber-Bosch-Verfahren erzeugt. Dazu ist Wasserstoff nötig, der heute allerdings zu über 95 Prozent aus fossilen Rohstoffen erzeugt wird. Dies ließe sich Eins zu Eins durch grünen Wasserstoff ersetzen – auch ohne den Bau von wasserstofftauglichen Pipelines, H2-Tankstellen oder den Umbau von Hochöfen.

Das führt zu den nächsten Fragen: Wie viel grüner Wasserstoff aus heimischer Produktion wäre nötig, um den kompletten deutschen Ammoniak-Bedarf zu decken? Und was bliebe dann noch für die zweit-, dritt- und viertbeste Anwendung übrig?

Gute 20 Terawattstunden an Wasserstoff verbrauchte die Ammoniak-Produktion im Jahr 2018 in Deutschland. Nimmt man die optimistischsten Wirkungsgrade moderner Elektrolyseure an (etwa 70 Prozent), sind zu deren Produktion rund 31 Terawattstunden Strom nötig. Das entspricht etwa dem gesamten Stromverbrauch von Belarus. Würde man den gesamten Wasserstoffbedarf für Ammoniak, Methanol und Raffinerieprodukten hierzulande mit Elektrolyse decken, wären es 90 Terawattstunden – mehr als der Jahresverbrauch eines Landes wie Finnland oder fast ein Fünftel der deutschen Nettostromerzeugung 2020 (knapp 480 TWh). Nimmt man noch den Wasserstoff hinzu, der für eine Umstellung der gesamten deutschen Stahlindustrie von Kohle auf Wasserstoff nötig wäre, kämen weitere 85 Terawattstunden hinzu, etwa soviel wie der Jahresbedarf von Belgien.

Zum Vergleich: Die „Ausfallarbeit“, also die abgeregelte Menge an Erneuerbaren, betrug 2020 gut 6,1 Terawattstunden. Das bedeutet: Würde man die gesamte überschüssige Energie komplett in die Wasserstoffproduktion stecken und diesen Wasserstoff wiederum komplett in die Chemie-Produktion, würde dies den Bedarf gerade einmal zu einem Fünfzehntel decken. Das widerum heißt: Wir haben es schon allein beim Versuch, die niedrig hängenden Früchte zu ernten – also den ohnehin bereits regelmäßig produzierten Wasserstoff durch saubere Quellen zu ersetzen –, mit derart hohen Energiemengen zu tun, dass der hiesige Ökostrom dazu vorne und hinten nicht reicht.

Daraus folgt:

  1. Die Vorstellung, man könne substanzielle Mengen Wasserstoff durch abgeregelten Strom gewissermaßen „geschenkt“ bekommen, ist eine Illusion.
  2. Wenn man grünen Wasserstoff konsequent dort einsetzt, wo es energetisch am sinnvollsten ist, bleibt für Anwendungen wie Verkehr bis auf Weiteres nichts übrig.
Ammoniak ist zwar giftig, aber doch einfacher zu transportieren als Wasserstoff. Ab etwa 1500 Kilometern ist die Umwandlung von Wasserstoff in Ammoniak sowie dessen Verschiffung günstiger als der Wasserstoff-Transport über eine neu zu errichtende Pipeline. Da sich Ammoniak direkt nutzen lässt – etwa zur Herstellung von Dünger – braucht er anschließend nicht zurück in Wasserstoff umgewandelt werden.

Daraus folgt weiterhin: Ohne Importe wird es wohl nicht gehen, am besten aus Ländern, in denen Erneuerbare Energie einfacher zu ernten ist als hierzulande. Allerdings sollten diese Importe weder, wie es Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vorhat, das selbstverschuldete Hinterherhinken beim Ausbau der Erneuerbaren Energien kaschieren, indem sie zurückverstromt werden. Noch sollten sie in Form von Wasserstoff geschehen, sondern direkt aus leichter und preiswerter transportablen Grundstoffen der Chemieindustrie wie Ammoniak oder Methanol.

Genau so etwas ist bereits geplant: „Australien will im Projekt Asian Renewable Energy Hub mit Solaranlagen und Windrädern das größte Kraftwerk der Welt bauen – und dort Ammoniak herstellen“, berichtet die Wirtschaftswoche. Und Uniper plane in Wilhelmshaven ein Importterminal für grünen Ammoniak. Auch der norwegische Düngerproduzent Yara plant laut Wirtschaftswoche einen Elektrolyseur für 450 Megawatt Wasserstoff, betrieben mit Strom aus Wasserkraft.

Und was ist dann mit all den anderen potenziellen Wasserstoff-Anwendungen für Transport, Energiespeicherung oder Wärmeerzeugung? Die müssen sich dann eben hinten anstellen. Die gute Nachricht ist: Die meisten lassen sich auch direkt elektrifizieren, ohne Umweg über den Wasserstoff.