Meinung | Bücher | MIT Technology Review

Philosophie

Die Weltgeschichte aus Sicht einer Ratte

Kerstin Decker: Die Geschichte des Menschen. Berlin Verlag, 432 Seiten, 24 Euro (E-Book: 19,99 Euro)

Sie sind in der Überzahl, sie lenken unser Schicksal aus dem Untergrund (zumindest behauptet das die Erzählerin, die integrierte Gesamtratte, der Genius ihrer Art) und sie sind uns ähnlicher, als wir wahrhaben wollen: Ratten. Kerstin Decker rückt unsere vermeintliche menschliche Überlegenheit über die Schöpfung in ihrer „Geschichte des Menschen – von einer Ratte erzählt“ scharfzüngig zurecht. Ihre Erzähl-Ratte wuselt, witzelt und klugscheißert sich durch die Menschheitsgeschichte, dass einem nach wenigen Kapiteln der Kopf schwirrt.

Sie teilt die Weltgeschichte nach rättischen Eigenschaften ein: die Landratte, die Wasserratte oder die Begleitratte. Die Kapitelüberschriften geben nur einen Anhaltspunkt, worum es geht, der gerade mal für die erste Seite reicht. Decker lässt sich treiben, ihre Ratte hüpft durch die Zeiten und Themen. Das ist auf Dauer ermüdend wie zu Anfang witzig und erfrischend. Der böse Witz von Rattus rattus wird irgendwann schal – wer mag schon Klugscheißer?

JO SCHILLING

INTERNET

Abrechnung mit Facebook

Sheera Frenkel, Cecilia Kang: Inside Facebook. Fischer, 384 Seiten, 24 Euro (E-Book: 16,99 Euro)

Tief im Design von Facebook stecken fundamentale Fehler, basierend auf Mark Zuckerbergs enger Weltsicht. So lautet das Ergebnis einer mehr als zehnjährigen Recherche, bei der Frenkel und Kang mehr als hundert Interviews mit Weggefährten und Mitarbeitern geführt haben. Die Reporterinnen der New York Times argumentieren, dass die Facebook-Führung immer wieder gezeigt habe, dass ihr Wachstum und Gewinn über alles gehe. 2014 etwa ignorierte sie Hinweise auf Gewalt in Myanmar, aus der ein Genozid mit mehr als 24.000 Toten erwuchs – angefeuert durch Hassrede und Desinformationen auf Facebook. Und 2016 spielte sie den russischen Einfluss auf die US-Präsidentschaftswahlen herunter, trotz klarer interner Beweise.

Es sei eine „unvereinbare Dichotomie“, Menschen zum Wohle der Gesellschaft miteinander verbinden zu wollen, sich aber gleichzeitig daran zu bereichern, schreiben die Autorinnen. Facebook werde sich deshalb niemals selbst von innen heraus reparieren können.

KAREN HAO

KLASSIKER NEU GELESEN

Chronik der Zukunft

Angela und Karlheinz Steinmüller: Visionen 1900 2000 2100. Eine Chronik der Zukunft. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 598 Seiten, antiquarisch

„Heil Dir, elektrisches Säkulum“, begrüßte das Satiremagazin Lustige Blätter am 1. Januar 1900 das neue Jahrhundert. Was aus diesem Technikoptimismus noch alles werden sollte, haben Angela und Karlheinz Steinmüller, selbst renommierte Science-Fiction-Autoren und Zukunftsforscher, akribisch nachgezeichnet. Für jedes Jahr des 20. Jahrhunderts haben sie zeitgenössische Visionen und Prognosen ausgegraben – dystopische und utopische, bizarre und seriöse, künstlerische und wissenschaftliche.

Auch wer mit dem Genre vertraut ist, wird in der 1999 erschienenen Sammlung noch viel Neues entdecken: 1915 etwa wurde Radium als Mittel zur „ewigen Jugend“ propagiert (siehe TR 8/2020, S. 74). 1931 raste ein propellergetriebener „Schienenzeppelin“ mit 230 km/h von Hamburg nach Berlin – und löste einen Hype der Stromlinienform aus, der nicht einmal vor Kühlschränken haltmachte. Schon 1934 stand das Fernseh-Telefon angeblich kurz vor dem Durchbruch. Und bereits 1975 träumte man von einer Kreislaufwirtschaft.

Ab dem Jahr 2000 wird aus der Rückschau ein Ausblick – unter anderem auf autonome Autos (2015), eine weltweite Pandemie (2016), geschlossene europäische Außengrenzen (2018) und Cybergeld (2020). Dabei irren sich die Propheten durchaus nicht immer in Richtung Überoptimismus, wie man anhand der unvermeidlichen Mondbasen und Marsreisen zunächst meinen könnte. Vieles klingt aus heutiger Sicht eher zu verhalten. So erwarten sie etwa eine Energieversorgung mit Solarstrom erst für 2030, einen Cyberkrieg für 2034, durch Klimawandel verursachte Unwetter für 2036, Asiens Dominanz über die Weltwirtschaft für 2057. Esoterik soll 2065 wieder in Mode kommen und Technikverweigerer sollen sich 2066 zu reaktionären Sekten zusammenschließen. Einiges davon könnte deutlich früher kommen.

GREGOR HONSEL