MIT Technology Review 6/2021
S. 106
Kolumne

Der Futurist

Zeit ist Geld

Illustration: Marei Stade

Gebot bestätigen?“

Davids Zeigefinger über dem Mausknopf hielt eine Sekunde lang inne. 393.763 Euro lautete sein Gebot. War er sich wirklich sicher?

Er klickte.

„Sie sind der Höchstbietende“, versicherte ihm das sperrige Interface der staatlichen Versteigerungsplattform.

Noch acht, noch sieben, noch sechs Sekunden. Er spürte ein Kribbeln im Magen. Gleich würde sie ihm gehören, die Supervilla in München-Bogenhausen. Mit Swimmingpool, Sauna, riesigem Garten. Soweit er wusste, hatte sie einer 98-Jährigen gehört, die gerade verstorben war.

Dann war die Auktion vorbei. Er schluckte. Er war nun Besitzer einer wundervollen Villa in einem der begehrtesten Stadtteile Münchens. Für weniger als 400.000 Euro!

Seitdem die rot-rot-grüne Bundesregierung vor rund zwei Jahren die Erb-Bremse verabschiedet hatte, durfte jeder Bürger nur noch Geld und Besitztümer im Wert von 50.000 Euro vererben. Der Rest fiel an den Staat. Reihenweise kamen Top-Immobilien, Luxuskarossen und Boote unter den Hammer. Was keinen Käufer fand, wurde einfach an Bedürftige gegeben oder verlost.

Die Immobilienpreise waren infolge des Gesetzes eingebrochen. So hatte David sich endlich seinen Traum erfüllen können. Selbst wenn er dafür einen großen Kredit würde aufnehmen müssen.

Er rief Andi an, um ihm von seinem Schnäppchen zu erzählen.

„Hey David!“ Andi war schlecht zu verstehen. Ein starker Wind pfiff im Hintergrund.

„Sorry, die Verbindung ist schlecht. Ich bin in der Antarktis. Wir haben hier nur Satelliten-Netz.“

„Was machst du denn da?“

„Ich organisiere einen Bungee-Jump von einem Eisberg.“

„Was?“

„Ich habe eine Event-Agentur gegründet. Die Reichen geben ihr Geld nur noch für krasse Abenteuer aus!“

„Ich wollte dir erzählen: Ich habe eine Top-Villa in München ersteigert!“

„Echt?“, sagte Andi wenig begeistert. „Warum das denn?“

„Sie hat unter 400.000 Euro gekostet!“

„Ach, David. Willst du dein Leben lang Kredite abzahlen? Für Dinge, die dir irgendwann nicht mehr gehören werden?“

Es stimmte, die monatlichen Bankraten würden seine Miete bei Weitem übersteigen. Davids Begeisterung für das Haus schwand schlagartig.

„Und jetzt?“, fragte David.

„Vermiete das Haus. Und mach mit bei meiner Firma. Da wirst du steinreich.“

Er folgte Andis Rat. Das Geschäft brummte. Besitz war kein Statussymbol mehr. Erlebnisse und Abenteuer waren die neue Währung, je spektakulärer und teurer, desto besser: Sektfrühstück in der Stratosphäre, ein Exklusiv-Konzert von Beyoncé auf einer Maya-Pyramide, Ming-Vasen auf dem Mount Everest zerdeppern – das alles organisierte Andi für seine superreiche Klientel. Seine Kunden hatten sich ihren Reichtum natürlich nicht alle selbst aufgebaut. Die Erb-Bremse konnte nicht verhindern, dass Väter ihre Söhne als Nachfolger in ihren Firmenimperien installierten.

David verdiente satt, aber schon bald merkte er, wie anstrengend sein neuer Job war.

Eines Abends saß er mit Andi bei einem Bier am Strand von Belize. Sie hatten im Great Blue Hole ein Unterwasser-Rugby-Match organisiert. Jetzt waren sie völlig erledigt.

„Das können wir unmöglich bis zur Rente durchhalten“, sagte David.

Andi nickte nachdenklich. „Hast du eine Idee?“

„Ja, also junge Reiche sind anstrengend zu bespaßen …“

„Das sind sie“, seufzte Andi.

„Wir wissen auch: Alte Reiche haben Torschlusspanik, ihr Geld auszugeben.“

Andi nickte wieder.

„Lass uns beides kombinieren!“

Andi sah ihn fragend an. „Und wie?“

„Kreuzfahrtschiffe. Wir rüsten sie zu Altenheimen um! Das ist die Zukunft!“ Jens Lubbadeh