MIT Technology Review 7/2021
S. 48
Industrie
Negative Emissionen

Die große Illusion

Jedes politisch auch nur halbwegs realistische Klimaszenario geht von einer Reduktion der CO2-Emissionen aus, die nicht reichen wird, um die Erderwärmung zu begrenzen. Das heißt, dass wir CO2 direkt aus der Atmosphäre entnehmen müssen. Wie gut kann das funktionieren?

Von Wolfgang Stieler und James Temple

Der sechste UN-Klimabericht des IPCC lässt sich auf zwei Kernaussagen zusammenstreichen. Die erste ist mittlerweile wohlbekannt, weil tausendfach gesagt, gedruckt und verbreitet worden: Die globalen Temperaturen werden bis Mitte des Jahrhunderts weiter ansteigen. Wenn wir es schaffen, die CO2-Emissionen bis 2050 auf Null zu senken, haben wir vielleicht eine kleine Chance, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Die zweite Kernaussage ist weniger bekannt, spricht sich aber langsam herum: Selbst die in Paris vereinbarten Emissionsminderungen werden dafür nicht reichen. Um die Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, muss die Welt Wege finden wird, um bis Mitte des Jahrhunderts etwa fünf Milliarden Tonnen (Gigatonnen) Kohlendioxid pro Jahr aus der Atmosphäre zu entfernen – bis zum Ende des Jahrhunderts muss diese Menge sogar auf 17 Milliarden Tonnen gesteigert werden. Das zumindest beinhaltet eines der Szenarien, das der IPCC für sehr realistisch hält – das Szenario wird als SSP1–1.9 bezeichnet.

Die Zahlen beruhen auf einer Analyse früherer Daten durch Zeke Hausfather, einem Klimawissenschaftler am Breakthrough Institute und Mitautor des Klimaberichtes. Um diese Zahlen ins Verhältnis zu setzen: Wir müssen so viel CO2 aus der Luft fischen, wie die US-Wirtschaft im Jahr 2020 emittiert hat. Natürlich ließe sich dieses Ziel senken, aber nur wenn es gelänge, die Emissionen noch schneller zu reduzieren. Welche Technologien und natürlichen Wege gibt es aber, CO2 dauerhaft aus der Atmosphäre zu entnehmen? Und wohin dann mit dem überschüssigen CO2?