MIT Technology Review 7/2021
S. 102
Meinung
Politik
Angela Merkel mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron auf der UN-Klimakonferenz 2017 in Bonn. Auf Klimagipfeln hatte sie sich während ihrer Amtszeit stets mehr Meriten verdient als im Maschinenraum ihrer eigenen Regierung.
Foto: ddp/Hannah Aspropoulos

Merkels Reue kommt zu spät

Zum Abschied ihrer Kanzlerschaft gibt Merkel zu, dass sie nicht genug zum Schutz der Lebensgrundlagen getan hat. Was heißt das für die Zukunft?

Am Ende von 30 Jahren in der Bundespolitik und 16 Jahren an der Spitze der Bundesregierung zeigt sich Angela Merkel in der Klimapolitik reumütig. Gemessen an dem Ziel, den weltweiten Temperaturanstieg auf maximal zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit zu begrenzen, sei während ihrer Kanzlerschaft „nicht ausreichend viel passiert“, sagte sie jüngst.

Doch zugleich versucht Merkel, ihren zu Beginn ihrer Amtszeit erworbenen Ruf als „Klimakanzlerin“ zu verteidigen: „Ich bin der Meinung, dass ich sehr viel Kraft für den Klimaschutz aufgewandt habe“, sagte sie. Das Thema habe ihre „gesamte politische Arbeit geprägt“.

Merkel fühlt sich offenkundig unter Druck, ihre Amtszeiten als Bundesumweltministerin und Bundeskanzlerin in ein gutes Licht zu rücken.

Das ist verständlich. Denn Verantwortliche, von denen es später heißen wird, dass sie die Klimakrise hätten abwenden können, es aber nicht getan haben, stehen in dem Risiko, dass alle anderen Erfolge dagegen vollständig verblassen. Euro-Rettung, Flüchtlingskrise und vieles mehr, was Merkel hoch angerechnet wird – es wird im Rückblick klein wirken, wenn ständige Extremwetter toben, die heißen Sommer von heute kühl wirken und wenn aus unbewohnbar gewordenen Gebieten Millionen Menschen gen Norden aufbrechen.

Die Klimakrise ist anders als die anderen Krisen, die Merkel meistern musste. Die meisten Krisen, mit denen es Politikerinnen und Politiker zu tun haben, sind zyklischer Natur: Eine Wirtschaftskrise kommt – und geht. Ein militärischer Konflikt kommt – und geht. Selbst eine Pandemie, die man als Jahrhundertkrise bezeichnen kann, kommt – und geht.

Die Klimakrise dagegen, sie kommt und kommt, wird schlimmer und schlimmer. Sie ist eine stetig eskalierende Krise. Weder in den Zeitskalen der Demokratie noch in denen von ein, zwei oder drei Generationen gibt es ein Zurück.

Um das Schlimmste noch abzuwenden, muss jedes Land ein CO2-Budget einhalten, mahnt die Wissenschaft. Laut Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change kann das Erdsystem noch 271 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aufnehmen, bevor die Erhitzung um 1,5 Grad Celsius komplett ist. 1020 Milliarden Tonnen Kohlendioxid sind es demnach bis zur Zwei-Grad-Schwelle.

Das ist der zweite große Unterschied der Klimakrise zu anderen politischen Krisen: In der Eurokrise zum Beispiel konnten Finanzminister und Zentralbanken flexibel reagieren, Geldmengen verändern, Zinsen senken, Kreditprogramme auflegen.

Bei der Klimakrise dagegen geht es um nicht verhandelbare Gesetze der Physik. Als Physikerin hat Merkel das verstanden – und doch nicht ausreichend danach gehandelt.

Deutschland hat mit einem Prozent der Weltbevölkerung sein Budget für diese 1,5-Grad-Schwelle schon in etwa fünf Jahren komplett aufgebraucht. Soll noch bis zum Jahr 2045 emittiert werden, stehen dafür nur 1,3 Tonnen pro Kopf und Jahr zur Verfügung. Jede und jeder Deutsche setzt am Ende der Ära Merkel noch immer 9 Tonnen CO2 pro Jahr frei. Das bedeutet, dass jede und jeder Deutsche das wissenschaftlich definierte Budget um das 7,5-fache überzieht.

Es hat schon immer zwei Angela Merkels gegeben: Die eine ist eine Physikerin, die alle diese Berechnungen der Klimaforscher versteht, die sich erste klimapolitische Meriten schon in den 1990ern bei den Weltklimagipfeln von Berlin (1995) und Kyoto (1997) verdient hat, die zum Ortstermin in die Arktis reiste, die vor dem Klimagipfel von Kopenhagen gegen die versammelten Blockierer ihr ganzes politisches Gewicht in die Waage warf. Es ist die Merkel, die mehrfach Greta Thunberg traf und die viele nachdenkliche Reden hielt.

Die andere Angela Merkel ist Machtpolitikerin, deren Position davon abhing, im Netzwerk der Mächtigen Interessen zu bedienen. Diese zweite Merkel hat das Verkehrs- und Infrastrukturministerium ebenso wie das Landwirtschafts- und Wirtschaftsministerium durchgängig Politikern anvertraut, die Politik fast ausschließlich für große Autos, große Konzerne und große Bauernhöfe gemacht haben und für die Klimaschutz eine lästige Sache war, ein Feld des politischen Gegners, das man eben nicht ganz ignorieren durfte.

Dieser Angela Merkel fiel die deutsche Solarindustrie ebenso zum Opfer wie Offensiven für umweltfreundliche Mobilität. Sie hat die deutsche Autoindustrie in Brüssel mit Zähnen und Klauen verteidigt, obwohl diese immer größere Benzinschlucker in den Markt gedrückt und Verbraucher systematisch betrogen hat.

Hunderte Modellprojekte der Bundesregierung können darüber nicht hinwegtäuschen: Während die Physikerin Merkel am Rednerpult zahlreiche klimapolitische Bekenntnisse abgab, verhinderte die CDU-Politikerin Merkel im Maschinenraum der Regierung systematisch die nötigen spürbaren und tieferen Veränderungen.

Ihrem Nachfolger oder ihrer Nachfolgerin hinterlässt Merkel nun gigantische Aufgaben: Die Stromproduktion, um die sich so viele der aufgeregten Debatten drehten, macht nur 20 Prozent des Endenergieverbrauchs aus. Auf ebenso großen Baustellen – der Beheizung von Gebäuden, der Mobilität, der Landwirtschaft – ist noch nicht viel passiert. Beim Schutz der Biodiversität ebenso wenig.

Merkel sagte zum Ende ihrer Amtszeit, sie sei „mit wissenschaftlichem Verstand ausreichend ausgerüstet, um zu sehen, dass die objektiven Gegebenheiten erfordern, dass man in dem Tempo nicht weiter machen kann, sondern schneller werden muss.“ Das Tempo müsse „angezogen“ werden.

Das heißt, 2022 und 2023 die dramatischsten Einschnitte in Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik auf den Weg zu bringen, die dieses Land je gesehen hat. Es gilt, 57 Milliarden umweltfeindliche Subventionen pro Jahr abzuschaffen, Bahn- und Radfahren Priorität vor Autos und dem Fliegen zu geben, die Natur als kritische Infrastruktur zu schützen.

Es heißt, mit den Bequemlichkeiten und Gewohnheiten der Boomer- und der Rentner-Generation zu brechen und das Land nicht nur auf digitale, sondern auch auf ökologische Modernisierung zu trimmen. Es geht darum, den Interessen der jungen Generation Priorität zu geben – und schon beim UN-Klimagipfel in Glasgow auf der Weltbühne zu vertreten.

Die Kanzlerin, die in der Diskussion um die Schuldenpolitik mit dem Titel der „schwäbischen Hausfrau“ kokettiert hat und der die „schwarze Null“ immer so wichtig war, hinterlässt ein Deutschland mit einer CO2-Überschuldung riesigen Ausmaßes. Das kann nur ausgeglichen werden, wenn das Budget in den kommenden Jahren radikal weniger beansprucht wird. Versagt die nächste Bundesregierung beim Klimaschutz, ist ein solches rechtzeitiges Umsteuern im globalen Zusammenspiel der Nationen kaum noch möglich – ein Vabanquespiel auf Kosten vor allem der jungen Menschen.Der Text ist erstmalig bei RiffReporter erschienen.