Der Futurist
Weißmalerei
Als er an diesem Morgen aufstand und das Radio anschaltete, ahnte er, dass die Dinge aus dem Ruder liefen. „I see a red door and I want to paint it white“, sang Mick Jagger. Nun hatten sich also sogar noch die Rolling Stones der „White is cool“-Bewegung angeschlossen und ihren 60er-Jahre-Hit „Paint it Black“ umgedichtet.
Als David Demain sein Telefon anschaltete, das seit Wochen ununterbrochen von Journalisten angeklingelt wurde, sah er, dass Andi mindestens dreißigmal versucht hatte, ihn zu erreichen.
„David ...“, sagte Andi atemlos. „Die Freiheitsstatue … es ist einfach so krass.“
Hastig googelte David auf seinem Laptop „Freiheitsstatue“ und er sah, was Andi meinte: Krone, Fackel und den Oberkörper von Lady Liberty hatten die Aktivisten mit weißer Farbe angestrichen.
„Oh nein …“, sagte David. Während er noch mit Andi sprach, piepte es in der Leitung. Auf dem Display sah er, dass es eine amerikanische Nummer war. „Scheiße“, sagte David, „das ist schon die amerikanische Presse. Ich gehe nicht ran.“
„Na klar gehst du ran“, sagte Andi. „Du bist berühmter als Greta Thunberg. Du musst dafür sorgen, dass es aufhört!“
Das alles kam David vor wie ein schlechter Traum, nur dass er nicht mehr enden wollte. Hätte er doch nur niemals dieses Video auf Youtube gestellt! Er hatte etwas für das Klima tun wollen, als er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das alte Fabrikgelände in Berlin-Wedding weiß angestrichen hatte. Weiße Farbe reflektiert Sonnenlicht. Mehr weiße Flächen, weniger Erderwärmung – so die einfache Botschaft. „White is cool“, hatte er großspurig in die Kamera gesprochen. „Sei du auch cool.“ Das Video ging viral und dann fing das Unheil an.
Zwar begannen viele, ihre Häuser und Dächer weiß anzustreichen. Aber es waren vor allem junge Männer, die sich mit immer spektakuläreren „White-is-cool“-Aktionen gegenseitig zu übertrumpfen suchten: Erst strichen sie die Siegessäule weiß, dann die Reste der Berliner Mauer an der East Side Gallery und schließlich sogar das Brandenburger Tor. Dann schlugen Weißmaler weltweit zu: Der Arc de Triomphe, das Kolosseum, Big Ben, ja sogar Teile der Chinesischen Mauer erstrahlten in Weiß, alles angeblich zum Wohle des Klimas. Die Länder versuchten, ihre Sehenswürdigkeiten vor den Weißmalern zu schützen, was ihnen aber natürlich nicht gelang. Nur Griechenland und Indien blieben cool, die Akropolis und das Taj Mahal waren ja schon weiß.
„Mr. Demain“, sagte der Reporter der New York Times, „jüngstes Opfer der White-is-cool-Bewegung ist nun die Freiheitsstatue. Was sagen Sie zu den Geistern, die Sie riefen?“
„Mir ging es doch immer nur ums Klima …“, sagte David in holprigem Englisch.
„Verkehrsunfälle nehmen zu, weil das viele Weiß die Menschen blendet.“
„Äh, das ist bedauerlich, das habe ich …“
„Der Absatz von Sonnenbrillen und Sonnenmilch ist sprunghaft angestiegen. Haben Sie Gelder von Sonnenbrillen- und Sonnenmilch-Herstellern erhalten?“
„Natürlich nicht!“, sagte David entrüstet.
„Mehrere Städte haben angekündigt, Sie auf Schadensersatz verklagen zu wollen. Wollen Sie trotzdem weitermachen?“
„Nein, will ich nicht. Bitte hört mit der Weißmalerei auf!“
Bevor der Reporter ihn weiter mit Fragen bombardieren konnte, legte David auf. Als sein Telefon sofort wieder zu klingeln begann, schaltete er es wieder aus.
Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. Was sollte er tun?
Er hatte eine Idee. Nach einer Weile fand er die alte CD und ein noch junger Mick Jagger sang:
I see a red door
And I want it painted black
No colors anymore
I want them to turn black
Er musste eine Gegenbewegung starten. David schaltete sein Smartphone wieder an. „Andi, ich bin’s. Kauf schwarze Farbe. Heute Nacht müssen wir in den Wedding.“ Jens Lubbadeh