MIT Technology Review 7/2021
S. 3
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

2,7 Grad – das ist der Wert an globaler Erwärmung, auf den wir laut eines UN-Berichts zusteuern. Damit ist er fast doppelt so hoch wie das 1,5-Grad-Ziel, das die politischen Akteure in fast jeder Debatte um den Klimawandel gebetsmühlenartig nennen. Es ist ganz erstaunlich, wie wirklichkeitsfremd das ist: Da klammert sich die Politik noch immer an einen Wert, den sie in der Vergangenheit mit Füßen getreten hat und der auch mit den aktuellen Vorhaben nicht zu erreichen ist.

Wie ernst es schon ist, zeigt zum Beispiel die Tatsache, dass es immer mehr Zonen auf der Erde gibt, die an bestimmten Tagen im Jahr eine Kombination aus Temperatur und Luftfeuchtigkeit aufweisen, die lebensbedrohlich für Menschen ist. Laut einer Studie ist das für 30 Prozent der Weltbevölkerung an mindestens 20 Tagen im Jahr bereits der Fall – Tendenz steigend (Seite 32).

Die gute Nachricht: Deutschland kann bis Mitte des Jahrhunderts klimaneutral werden. Wir fassen die wichtigsten Szenarien bezüglich der Veränderungen zusammen, die dafür nötig wären (Seite 14). Es sind Szenarien und keine Prognosen, machen aber deutlich, dass es hart wird: Weniger individuelle Mobilität, also deutlich weniger fliegen und Auto fahren. Weniger Fleischkonsum. Noch mehr Windräder – ja, auch direkt vor der eigenen Haustür. Die Liste ist lang.

Gleichzeitig räumen wir mit unrealistischen Argumenten auf, die immer wieder aufkommen. Die Idee zum Beispiel, CO2 aus der Atmosphäre zu entnehmen, klingt gut. Das funktioniert technisch sogar. Die Wahrheit ist aber auch, dass die nötige Menge, um bei einer globalen Klimaneutralität bis 2050 das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, gigantisch ist. Das ist mit technischen Lösungen kaum zu schaffen (Seite 48).

Das Beispiel zeigt: Technologische Innovationen allein werden nicht genügen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Der Klimawandel ist vor allem eine kulturelle und soziale Frage. Sind wir bereit für die Einschnitte, die in unserem Alltag nötig wären? Ist die Politik bereit, die Grenzen des Wachstums anzuerkennen und danach zu handeln? Und sind wir alle bereit, die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, fair zu verteilen? Die Antworten auf diese Fragen werden darüber entscheiden, ob wir es schaffen, unseren Kindern einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.

Ihr

​Luca Caracciolo

@papierjunge