MIT Technology Review 8/2021
S. 106
Kolumne
Illustration: Marei Stade

Der Futurist

Blutige Wäsche

Der Verlust seines Ring- und kleinen Fingers war David eine Lehre dafür, dass er auf Andi hätte hören sollen. David Demain hatte in diesen Tagen eine Menge sehr hässlicher Geschichten gehört. Von Menschen, die tot neben ihren Waschmaschinen lagen, an Stromschlag gestorben, durch plötzlich zuschlagende Waschmaschinentüren bewusstlos geschlagen und durch ausströmendes Wasser ertränkt. Ganz zu schweigen von den vielen abgetrennten Händen und Armen. „Sie haben noch Glück gehabt, Herr Demain“, sagte sein Arzt. Doktor Herrmann hatte tiefe Augenringe und wirkte fahrig. Sein weißer Kittel war schmutzig, er roch nach Schweiß. Wie alle konnte auch Doktor Herrmann seine Wäsche nicht mehr waschen. Es war einfach zu gefährlich geworden, nachdem Waschmaschinen auf der ganzen Welt sich plötzlich in tödliche Fallen verwandelt hatten. „Es muss aufhören“, sagte der Arzt mit verzweifelter Stimme, als er David den Verband anlegte. „Es muss aufhören!“, schrie er unvermittelt und David zuckte zusammen.

Die Rebellion der Maschinen hatte wohl niemand im Badezimmer oder im Waschkeller vermutet.

Schmerzlich wurde es der globalen Gesellschaft bewusst, dass es nicht der Fernseher, nicht der Personal Computer, auch nicht das Internet und die Smartphones waren, welche das moderne Leben erst möglich gemacht hatten. Es war die Waschmaschine. Die Verschwörungstheorien schossen ins Kraut. Die noch plausibelste Erklärung für die globale Metamorphose der Waschmaschinen war ein Computerwurm, den angeblich ein 12-jähriger usbekischer Schüler programmiert hatte. Angeblich hatte er sich rasend schnell über die Stromnetze verbreitet und sich in den CPUs der Maschinen eingenistet.

David packte seinen Wäschesack, es fiel ihm nicht leicht mit dem dicken Verband an seiner rechten Hand. Dann machte er sich auf zum nächsten Waschsalon. Auf den Straßen sah er zahlreiche Verstümmelte wie sich selbst. Berge weggeworfener Schmutzwäsche lagen herum. Altkleider-Sammelcontainer lagen umgestürzt und aufgebrochen herum. Diejenigen, die sich nicht auf die mühsame und zeitraubende Handwäsche einlassen wollten oder konnten, warfen benutzte Kleidung einfach weg und kauften sie neu. Mit der Folge, dass die Bekleidungsabteilungen der Geschäfte leergefegt waren. Zalando lieferte schon lange nicht mehr, es hieß, die Berliner Zentrale des Konzerns sei geplündert worden.

Vor dem Waschsalon hatte sich eine riesige Schlange gebildet. Nur mühsam konnten Deos und Parfüms den beißenden Geruch übertünchen, welcher der ungewaschenen Kleidung der Menschen entströmte. Bundeswehr-Soldaten kontrollierten den Eingang zum Waschsalon. Die Industriemaschinen wurden nur noch von Soldaten mit kevlarverstärkten Uniformen bestückt. Trotzdem kam es auch in den Waschsalons immer wieder zu schrecklichen Vorfällen.

David tippte den Mann vor sich in der Schlange an.

„Ist der Salon sicher?“, fragte er.

„Ich glaube schon.“ Der Mann zog nervös an seiner Zigarette. Trotz des Rauchs erwischte David eine Geruchswolke: alter Schweiß und getrockneter Urin. „Jedenfalls ist noch nichts ...“

Gellende Schreie ertönten plötzlich. Kurz darauf stürmten Sanitäter mit einer Bahre aus dem Waschsalon. Ein verletzter Mann im Spezialanzug lag darauf. Er blutete.

„Es muss einfach aufhören“, sagte der Mann.

Es hörte auf. Am 20.2.2022 um exakt 22.22 Uhr usbekischer Zeit brannten die CPUs aller befallenen Waschmaschinen auf der ganzen Welt durch.

Der Spuk war vorbei.

David Demain war auf dem Weg zu Media Markt. Er hoffte, noch eine Waschmaschine zu kriegen. Es gab nur noch ein Modell: SafeWash 3000. Sie war analog und wurde mit Gas betrieben. Jens Lubbadeh