MIT Technology Review 8/2021
S. 100
Meinung

Der Winter naht

Die Gesellschaft ist pandemiemüde, die Impfquoten sind unbefriedigend, die Masken und Teststäbchen fallen. Das wird nicht gut gehen.

Wer es hören wollte, war vorbereitet, nur hat kaum noch jemand zugehört: Seit dem Sommer warnen Experten, dass das Virus im Herbst wieder zurückkommen wird. Mit hohen Inzidenzen, mit vollen Intensivstationen, mit vielen Toten. Jetzt tritt all das gerade ein und niemanden scheint es zu interessieren. Im Gegenteil: Der Umgang mit Masken wird sorgloser, die Kontrollen von 2G oder 3G sind großenteils nicht existent und die Impfquoten werden nur noch marginal steigen, wie eine aktuelle Forsa-Umfrage zeigt. Von 3000 Befragten wollten sich gerade einmal zwei Prozent „auf jeden Fall“ noch impfen lassen. Der Rest dümpelt zwischen Unentschlossenheit und Ablehnung. Da kommen halbseidene Informationen über vermeintlich unterschätzte Impfquoten, wie sie im Oktober kursierten, als Argument gegen die eigene Impfung gerade recht. Das Problem: Zahlentrickserei ändert nichts an der Tatsache, dass die Durchimpfung der deutschen Gesellschaft nicht ausreicht.

Im Prinzip sind wir in der gleichen Situation wie vor einem Jahr. Die Infektionszahlen und die Hospitalisierungen steigen an. Das fällt zusammen mit einer hohen Auslastung der Intensivstationen, denn über den Sommer ist der reguläre Medizinbetrieb wieder angefahren und zusätzlich sind die Intensivstationen mit Menschen belegt, die teilweise schon länger dort liegen. Die Krankenhaussituation ist also eher sogar schlechter als vor einem Jahr.

Dass die Pflegeberufe nicht zu den attraktivsten Jobs gehören, hat sich während der Pandemie ebenfalls herumgesprochen. Mit problematischen Folgen. Weil immer mehr Pflegekräfte aussteigen, können Krankenhausbetten, die eigentlich vorhanden sind und 2020 noch genutzt werden konnten, heute nicht mehr belegt werden.

Und dann haben wir noch die Impffalle: Unsere Senioren haben wir als erste geimpft. Das war richtig und gut, ist allerdings jetzt schon so lange her, dass passend zur nächsten Welle der Impfschutz für diese Menschen nachlässt. Und zwar stärker als bei jungen und mittelalten Menschen, weil das Immunsystem und damit auch die Impfreaktion mit zunehmendem Alter schwächer werden. Dazu kommt, dass die Impfstoffe nicht für die vorherrschende Delta-Variante optimiert sind. Booster-Impfungen sind dringend notwendig, aber laufen nur zäh an. Das sind viele Faktoren, die die Situation sogar kritischer machen als vor einem Jahr. Auf der „Haben“-Seite steht nur, dass weniger Menschen an Covid-19 sterben, wenn sie geimpft sind.

Der Blick in die USA zeigt eine Durchimpfung von knapp 56 Prozent und eine Inzidenz von 187,5. Beispiel Großbritannien: 66,3 Prozent der Menschen waren am 14. Oktober vollständig geimpft, aber das Fallenlassen sämtlicher Sicherheitsmaßnahmen hat eine aktuelle Inzidenz von 392 zur Folge und eine deutlich höhere Hospitalisierungsrate als in den anderen europäischen Ländern. Mit einer Impfquote von 68 Prozent haben die Niederländer vor etwas über einem Monat einen Großteil der Corona-Einschränkungen über Bord geworfen. Jetzt steigen die Infektionszahlen rasant – bei Redaktionsschluss lag die Inzidenz bei 190 und die Lage in den Kliniken gilt bereits als besorgniserregend.

Die Impfquote allein ist nicht ausschlaggebend für die Inzidenz und Hospitalisierungsrate. Vor allem der alltägliche Umgang mit der Infektionsgefahr ist ein zentraler Faktor. Deshalb empfiehlt das RKI auch in seiner ControlCovid-Strategie grundsätzlich, dass die Basismaßnahmen bis zum nächsten Frühjahr – auch von Geimpften und Genesenen – eingehalten werden sollten. Und da will die sich derzeit konstituierende Ampel zum 25. November die „epidemische Notlage von besonderer Tragweite“ beenden. Geht’s noch?