MIT Technology Review 1/2022
S. 106
Kolumne
Illustration: Marei Stade

DER FUTURIST

Befristet

Text: Jens Lubbadeh; Grafik: Marei Stade

Die Türklingel riss David Demain aus dem Schlaf. „Wer ist das?“, murmelte Eva schlaftrunken neben ihm.

„Machen Sie bitte auf“, rief eine Männerstimme von außen.

David schlurfte zum Eingang. Es waren zwei uniformierte Männer, einer groß, einer klein. Er erkannte das Logo der Obsoleszenz-Behörde.

„Herr Demain. Ihr Auto ist abgelaufen. Wir kommen, um es abzuwracken. Haben Sie das etwa vergessen?“

Siedend heiß fiel es David wieder ein. Der Mercedes! Seine zehn Jahre waren um.

„Nein, kommen Sie rein“, sagte er und führte die Beamten in die Garage, wo sein E-Lektra 500 SE stand. Der kleinere Beamte pfiff anerkennend. „Den haben Sie top gepflegt.“ Er öffnete die Motorhaube und bedeutete David hineinzusehen. „Aber hilft ja nüscht. Der ist fertig.“ Er tippte auf den Lebensuhr-Smiley, der auf dem Motor angebracht war: Er zeigte ein trauriges Gesicht. Die Lebensuhr war abgelaufen.

„Wenn Se den selbst rechtzeitig zum Abwracken jefahren hätten, müsstick Ihnen jetzt nicht ne Strafe uffbrummen“, grummelte der größere Beamte kopfschüttelnd, während er auf seinem Pad das Formular ausfüllte. „Manchma fragick mir, wat sich die Leute nur denken. Glooben Se, wia merkn dit nich? Wir machen dit hiar doch nich zum Spaß. Sondern damit de Wirtschaft brummt.“ Der Beamte stutzte kurz. „Übrigens … Ick seh hiar, ditt Ihr Haus ooch bald abläuft.“

Ein Schreck durchfuhr David. Im Kopf rechnete er schnell nach. Es stimmte. Die fünfundzwanzig Jahre Lebenszeit seines Hauses liefen aus.

Der Beamte druckte die Abwrack-Quittung aus. „Hiar unterschreiben.“

David gab ihm die Autoschlüssel, und die Obsoleszenz-Beamten fuhren mit seinem Mercedes davon. Betrübt sah er auf die Quittung in seiner Hand. Am Fußende stand in Schreibschrift das Motto der Obsoleszenz-Behörde: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …“

*

„Was soll das heißen, wir müssen hier raus?“

Eva war fassungslos und wütend.

David zuckte mit den Schultern. „Was soll ich machen? Die fünfundzwanzig Jahre sind um.“

„Verdammt, David. Wie konntest du denn nur ein befristetes Haus kaufen?“

„Mehr konnte ich mir damals nicht leisten.“

Sie schlug die Hände vors Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Und jetzt? Wohin sollen wir jetzt gehen?“

„Lass mich nochmal mit der Behörde reden“, sagte er.

*

Eine Woche später saßen David und Eva auf der Couch. Er goss Champagner für beide ein.

„Sag schon, David. Was gibt es zu feiern?“, fragte Eva.

Er reichte ihr lächelnd ein Glas und stieß mit ihr an: „Eva, wir können das Haus behalten!“

„Was?“

„Wir haben jetzt ein unbefristetes Haus!“

Sie fiel ihm um den Hals. „Ich bin ja so froh, mein Schatz!“

Erleichtert tranken sie einen Schluck Champagner. Er schmeckte hervorragend.

Dann sah Eva ihn stutzig an.

„Wie hast du das geschafft?“

Er zögerte. „Ach, das ist doch jetzt nicht so wichtig …“

Aber sie ließ nicht locker. „Bitte. Ich möchte es wissen.“

Widerwillig begann David zu erklären. „Die Obsoleszenz-Behörde hat ein neues Bonus-Programm aufgesetzt. Man kann jetzt alle befristeten Besitztümer auf einen Schlag entfristen lassen …“

Sie sah ihn ungläubig an. „Wie denn das?“

„Nun. Das geht. Aber nur unter einer Bedingung“, sagte er kleinlaut. „Man muss sich dafür selbst befristen lassen.“

Eva sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Wie bitte?“

David streckte seinen rechten Arm aus und drehte das Handgelenk um. Deutlich war darauf eine Lebensuhr zu erkennen. Der Smiley lächelte nicht mehr. Er schaute neutral.

„In fünfundzwanzig Jahren werde ich abgewrackt, Eva.“ Jens Lubbadeh