MIT Technology Review 1/2022
S. 10
Aktuell
Industrieller Fischfang hat die Meeresfisch-Bestände seit dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts halbiert – mit starken Folgen für das Klima.
Foto: Paul Einerhand / Unsplash

Überfischtes Klima

Weniger Fischkot durch Überfischung verändert den Kohlenstoffkreislauf der Meere. Die Auswirkungen könnten so stark wie die bekannten Effekte des Klimawandels sein.

Fische sind wichtige Größen in den bio- und geochemischen Kreisläufen der Ozeane – selbst ihre Leichen und Exkremente. Mit der Nahrung nehmen Fische große Mengen Kohlenstoff aus dem Wasser auf und scheiden ihn als Kot wieder aus. Die Exkremente und auch Fischleichen sinken im Meer nach unten, und was auf dem Weg zum Meeresboden nicht gefressen wird, versinkt im Schlamm. Die vergleichsweise grobe Biomasse sinkt mit einer Geschwindigkeit von bis zu einem Kilometer pro Tag. Damit ist sie deutlich schneller als andere, kleinere Partikel und auf dem Weg nach unten wird weniger davon abgebaut. Die Brocken aus dem Fischdarm, die auf dem Meeresgrund ankommen, leisten einen entscheidenden Beitrag bei der Speicherung von Kohlenstoff: Sie bleiben bis zu 600 Jahre im Meeresboden eingeschlossen – und gelangen somit nicht wieder als CO2 in die Atmosphäre.

Welch große Auswirkungen die Menge an Fisch-Ausscheidungen auf die Kohlenstoffsenke im Meer hat, verdeutlicht eine neue Untersuchung eines internationalen Teams um den Biologen Daniele Bianchi von der University of California, Los Angeles. Die Forschenden haben untersucht, wie stark die Masse an Fischkot durch die industrielle Fischerei zurückgegangen ist, und mit diesen Daten den biogeochemischen Kreislauf in den Ozeanen nachvollzogen.

Meere sind eine bedeutende Kohlenstoffsenke und eine wichtige Größe im Klimawandel. Mittlerweile haben viele Forschungsgruppen die globalen Prozesse des Kohlenstoffkreislaufs in den Ozeanen analysiert und quantifiziert: Die Ozeane speichern etwa 50 Prozent des von Menschen verursachten Kohlendioxids und pumpen es bis in den Tiefseeboden. Dabei unterscheidet man zweierlei Pumpen: die physikalische Kohlenstoffpumpe, die CO2 im Meerwasser löst und über Strömungen in die Tiefe transportiert, und die biologische Kohlenstoffpumpe, bei der Lebewesen den Kohlenstoff aufnehmen und transportieren.

Bisherige Modelle der biologischen Pumpe berücksichtigen jedoch vor allem die Myriaden der Bakterien und des Planktons im Wasser. Bianchi stellt nun auch einen Zusammenhang mit der Fisch-Biomasse, dem Stoffwechsel der Fische und ihrer Kot-Produktion her: Fische fressen meist an der nahrungsreichen Meeresoberfläche, wo das photosynthetisch aktive Phytoplankton CO2 in Biomasse umwandelt. Der Fischkot transportiert den aufgenommenen Kohlenstoff von der Oberfläche in die Tiefe und unterhalb von 1000 Metern gilt der Kohlenstoff als sequestriert.

Die Biologen haben zunächst aus historischen Quellen und DNA-Spuren im Meeresboden ermittelt, wie viele Fische vor der industrialisierten Fischerei, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, im Meer schwammen: Die Fangmengen sind für wichtige Arten wie Kabeljau und Thunfisch dokumentiert und molekulare Spuren im Meeresboden lassen sich noch nach Jahrzehnten nachweisen. Auf dieser Basis haben sie die Biomasse der befischten und nicht-befischten Arten rekonstruiert. Sie errechneten, dass in dieser Zeit etwa 3,3 Gigatonnen Fische zwischen 10 Gramm und 100 Kilogramm Gewicht in den Meeren lebten. Ihre Ergebnisse bestätigen bereits vorliegende Studien wie die des Fischereistatistikers Daniel Pauly: Zwischen dem Anfang der industrialisierten Fischerei und den größten Fangmengen in den 1990er-Jahren hat sich die Fisch-Biomasse in den Weltmeeren halbiert.

Mit dramatischen Folgen, denn nach Bianchis Berechnungen machen Fischfäkalien zehn Prozent des sequestrierten Kohlenstoffs aus. Ohne diese biologische Pumpe – mit dem aktuellen Fischbestand – läge die CO2-Konzentration in der Atmosphäre schätzungsweise 150 bis 200 parts per million (ppm) höher. Zum Vergleich: Um das Jahr 1800 lag die Konzentration bei 280 ppm, 2020 erreichte sie einen Wert von 412,5 ppm.

Nach Schätzungen der Forscher konsumierten die Fischbestände vor der industriellen Fischerei rund zwei Prozent der globalen Primärproduktion an CO2, produzierten aber zehn Prozent des biologischen Materials, das in Form von Exkrementen auf den Meeresgrund sank und dort für Jahrhunderte gespeichert wurde. Mit der Halbierung der Fischbestände hat sich auch der Koteintrag signifikant reduziert, damit ist eine bedeutende Kohlenstoffsenke erheblich geschrumpft.

Auch wenn die Biomasse von Meeresfischen und ihren Fäkalien Schätzwerte sind, sind im Fischkot gewaltige Mengen Kohlenstoff für viele Jahrhunderte oder sogar länger gebunden. Bianchis Zahlen legen sogar den Schluss nahe, dass die Auswirkungen der industriellen Fischerei auf den Kohlenstoffkreislauf der Ozeane die gleiche Größenordnung haben wie die Effekte des Klimawandels. Bettina Wurche