MIT Technology Review 1/2022
S. 100
Meinung

Impft die Welt!

Neue Virus-Varianten wie Omicron entstehen dort, wo Viren sich ungehindert entwickeln können. Wenn wir keine neuen Überraschungen wollen, müssen wir vor allem in Afrika impfen.

Es ist aus dem Ruder gelaufen. Die Warnungen waren laut und deutlich, der Duktus der Mahner von Woche zu Woche eindringlicher. Aber es hat nichts genützt. Die vierte Welle hat die Welt fest im Griff. Über Monate war die Delta-Variante so beherrschend im Pandemiegeschehen, dass die Gefahr durch neue Varianten fast schon in Vergessenheit geraten ist. Und dann kam Omicron. Auch ihre Entstehung war absehbar, nur waren die Warnungen zu leise, um im lokalen Wutgebrüll Gehör zu finden. Absehbar war sie, weil wir ihre Entstehung durch ein nachlässiges weltweites Pandemie-Management nicht unterbunden haben. Denn neue Virusvarianten entstehen dort, wo Menschen dem Virus schutzlos ausgeliefert sind. So wie jetzt in Südafrika.

Dabei sind die Instrumente, um die Entstehung neuer Varianten auszubremsen, eigentlich vorhanden: Impfstoffe und die nötige Infrastruktur, um sie gerecht zu verteilen, um all die Menschen zu impfen, die sich Impfstoffe nicht leisten können oder keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Die WHO, CEPI (Coalition for Epidemic Preparedness Innovations) und GAVI (Global Alliance for Vaccines and Immunisation) haben dafür gemeinsam mit UNICEF die humanitäre COVAX-Initiative gegründet. In der Not und angesichts der Bedrohung durch das Virus mitten unter uns verkümmert die menschliche humanitäre Ader jedoch leicht: Wir diskutieren den richtigen Zeitpunkt für Booster-Impfungen, ärgern uns über schlechte Impfquoten in unserer Gesellschaft und volle Fußballstadien und nehmen bestürzt wahr, wie Militärflugzeuge Intensivpatienten durch das Land fliegen. Der eigene Oberarm ist uns der nächste.

Omicron zeigt uns jedoch gerade die wohl gefährlichste Lücke in unserem Pandemie-Management: die stete Gefahr, dass eine neue Variante auftaucht, die unsere so mühsam aufgebauten Abwehrstrategien unterläuft. An dieser Stelle kommt die humanitäre Hilfe wieder ins Spiel und gibt der Binsenweisheit, dass humanitäre Hilfe vor allem den Helfenden hilft, ein ganz anderes Gewicht. Denn – um bei Omicron zu bleiben – die Menschen in Afrika und Südafrika zu impfen, schützt vor allem uns.

Dazu ein paar Zahlen: Am 30. November waren in Europa insgesamt 1 416 009 Menschen an Covid-19 gestorben. In den USA waren es 778 601 Menschen. Damit sind auf dem Europäischen Kontinent und in den USA über 40 Prozent der weltweiten Toten durch Covid-19 zu beklagen. Allerdings machen diese beiden reichsten Regionen der Erde gerade mal 16 Prozent der Weltbevölkerung aus.

Auffallend ist, dass SARS-CoV-2-Varianten – bis auf die in Großbritannien entstandene Alpha – sämtlich aus den BRICS-Staaten stammen: den fünf großen Ländern mit aufstrebenden Volkswirtschaften, aber gleichzeitig großem Sozialgefälle. In Brasilien hat sich Gamma entwickelt; Russland hat noch keine eigene Variante; aus Indien kommend, hat sich Delta um die Welt verbreitet; in China hat die Pandemie ihren Ursprung und Südafrika war sogar bereits zweimal mit neuen Varianten vertreten. Beta hat sich in anderen Regionen nicht verbreiten können, war in Südafrika jedoch dominant. Was Beta nicht geschafft hat, scheint jetzt Omicron zu gelingen.

Was Omicron uns tatsächlich bringen wird, wissen wir noch nicht. Klar ist nur, dass diese Variante im Vergleich zur Ausgangsvariante stark mutiert ist – vor allem im Bereich des für die Impfung relevanten Spike-Proteins. Jede dieser Mutationen ist bereits bekannt, jedoch nicht in dieser Kombination. Der Rest ist Spekulation. Forschende sind aus guten Gründen besorgt, äußern das öffentlich und empfehlen die Impfung, weil jede Impfung – egal gegen welche Variante – zumindest einen Grundschutz bietet. Biontech und andere Pharmaentwickler arbeiten an einem angepassten Impfstoff. Sonst gibt es dazu derzeit nichts zu sagen. Wir müssen abwarten, auch wenn es schwerfällt.

Also ist Zeit, einmal die Ursachen für das Geschehen in den Fokus zu rücken. Bleiben wir aus gegebenem Anlass in Südafrika. Das Land weist derzeit eine Impfquote von gerade einmal 24,3 Prozent auf. In den benachbarten Staaten ist die Situation ähnlich oder schlechter. In Südafrika hat das Virus in anderen Varianten bereits massiv gewütet, daher sind Aussagen über den milden Verlauf der Infektion mit der Omicron-Variante mit Vorsicht zu bewerten, denn auch wenn das Virus stark mutiert ist, bietet die durchlaufene Infektion einen gewissen Immunschutz – so wie wir uns das von den Impfungen ebenfalls erhoffen. Zudem ist die südafrikanische Bevölkerung sehr jung: Nur sechs Prozent der Menschen sind über 65 Jahre alt. Damit haben die Patientinnen und Patienten ohnehin eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen milderen Verlauf.

Was die südafrikanische Bevölkerung jedoch grundsätzlich von europäischen Ländern und Nordamerika unterscheidet, ist die massive Durchseuchung mit HIV. Südlich der Sahara sind etwa 25,6 Millionen Menschen HIV-positiv. In Südafrika ist die Situation besonders schwierig. Dort sind über 20 Prozent der Bevölkerung mit dem HI-Virus infiziert. Und diese Menschen bieten dem Corona-Virus eine einzigartige Gelegenheit. Es kann an dem geschwächten Immunsystem der HIV-Infizierten trainieren, wie es der Immunantwort entkommt, denn die funktioniert nur zögerlich und unentschlossen. Wechselt es den Wirt – und dieser Wirt ist nicht geimpft – kann es seine neuen Fähigkeiten erproben und, wenn es für das Virus gut gelaufen ist, seine Reise um die Welt antreten.

Damit sind wir wieder am Anfang. Selbst wenn es uns dreifach geimpften, privilegierten Industriestaaten-Einwohnern egal ist, wie die Menschen in Afrika, Indien oder Südamerika mit Covid-19 fertig werden: Wenn wir ihnen nicht helfen, das Virus zu bekämpfen, und sie darin unterstützen, so viele wie irgend möglich zu impfen, werden wir auch die nächsten Winter noch mit dem Covid-Echo aus diesen Ländern leben müssen. Dabei haben wir Besseres zu tun, als uns von Lockdown zu Lockdown zu hangeln. Zum Beispiel, uns um die andere globale Krise zu kümmern: den Klimawandel.

Der übrigens auch ein Pandemietreiber wird. Krankheitserreger werden sich neue Lebensräume erschließen, die Armut wird zunehmen, die medizinische Infrastruktur schlechter werden. Aber das ist eine andere Geschichte.