MIT Technology Review 3/2022
S. 74
Report
Meeresforschung

Verwirrende Meeresströme

Könnte der Klimawandel den Golfstrom stoppen? Von dieser Frage hängt das Schicksal ganzer Kontinente ab. Doch je tiefer Wissenschaftler in die Details der lebenswichtigen Meeresströmungen eindringen, desto seltsamer und unberechenbarer erscheinen sie.

James Temple (Übersetzung: Gregor Honsel)

Ein akustisches Signal löst ein fünf Kilometer langes Kabel von seiner tonnenschweren Verankerung am Meeresgrund. Techniker in Schutzausrüstung holen das Kabel mit einer Winde an Bord der RRS Discovery. Alle paar Minuten halten sie an, um Schwimmer und Sensoren abzunehmen. Die Messfühler haben hier, auf 26,5° nördlicher Breite direkt östlich des Mittelatlantischen Rückens, den Salzgehalt und die Temperatur in verschiedenen Tiefen gemessen. Ihre Daten können Aufschluss über Geschwindigkeit und Volumen der örtlichen Meeresströmungen geben – und damit auch über das weitere Schicksal einer der wichtigsten Kräfte im Klimasystem des Planeten: die Nordatlantische Zirkulation (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC).

Die AMOC ist Teil des mächtigsten Flusses der Welt – ein Netzwerk aus Meeresströmungen wie dem Golfstrom, das sich über zehntausende Kilometer von der Südsee bis nach Grönland erstreckt. Es wird dadurch angetrieben, dass Wasser kühler und dichter wird, wenn es die hohen Breitengrade erreicht. Dort taucht es dann kilometerweit ab, breitet sich aus und strömt nach Süden, wo es wieder aufgeheizt wird und an die Oberfläche steigt.