MIT Technology Review 6/2022
S. 3
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

, Foto: Ricardo Wiesinger
Foto: Ricardo Wiesinger

„Künstliche Intelligenz ist eine Technologie der Mächtigen“ – das sagt die ehemalige Google-Mitarbeiterin und KI-Forscherin Meredith Whittaker im Interview auf Seite 22. Mit dieser Aussage ist sie längst nicht mehr allein. Aber was heißt das für die weitere Entwicklung von KI? Was genau hat sie mit Macht, Herrschaft oder Kolonialismus zu tun?

Genau vor einem Jahr haben wir in einer Titelgeschichte erklärt, wie Künstliche Intelligenz auf der technischen Ebene diskriminierend wirken kann (siehe TR 06/21). Das liegt vor allem an den riesigen Datenmengen, mit denen Entwicklerinnen und Entwickler diese extrem leistungsfähigen Systeme trainieren. Die Daten beinhalten Trainingsbeispiele, die Diskriminierungen und Vorurteile reproduzieren: „Frauen sind keine guten Führungskräfte“ oder „Menschen mit schwarzer Hautfarbe sind weniger leistungsfähig“.

In dieser Ausgabe gehen wir einen Schritt weiter. Wir diskutieren, warum KI und ihre Voraussetzungen hochpolitisch sind und welche zum Teil kolonialen Ideen und Konzepte in ihrem Kern verborgen liegen (Seite 14). Was im ersten Moment sehr abstrakt klingt, konkretisieren wir mit vier Reportagen aus der ganzen Welt. Diese exklusiven Einblicke, aufgeschrieben von unserer ehemaligen US-Kollegin Karen Hao, zeichnen ein Bild von einer Technologie, die in bestimmten Bereichen ähnlich unterdrückend wirkt wie alte koloniale Mächte.

Es geht zum Beispiel um ausgebeutete Arbeitskräfte in Venezuela, die für Centbeträge Daten für KI-Systeme aufbereiten (Seite 34); oder massive Überwachung in Südafrika, wo Algorithmen entscheiden, wer verdächtig aussieht und wer nicht (Seite 26). Aber es gibt auch Hoffnung: Denn der Antrieb wächst, mit KI auch Positives zu bewirken. In Neuseeland zum Beispiel arbeitet ein Team daran, seltene Sprachen mithilfe der Technologie zu erhalten (Seite 52). Und in Indonesien opponieren Ride-Sharing-Fahrer zum Teil sehr erfolgreich gemeinsam gegen den Algorithmus einer App, die ihre Fahrten koordiniert (Seite 42).

Ich lade Sie ein, sich mit den ideologischen und polit-ökonomischen Hintergründen der mächtigsten Technologie unserer Zeit auseinanderzusetzen – um zu verstehen, wie sie unsere Welt prägt. Das ist nicht immer einfach und bisweilen sogar anstrengend. Aber es lohnt sich: Denn nur wenn wir diese Hintergründe begreifen, können wir Künstliche Intelligenz tatsächlich zum Wohle möglichst vieler Menschen einsetzen.

Ihr

Luca Caracciolo

@papierjunge