MIT Technology Review 4/2024
S. 89
Report
Jubiläum

Fall einer Heldin

Vor 150 Jahren stellte der Brite Charles Romley Alder Wright jene Substanz her, die Bayer später Heroin taufte und als eine Art Wundermittel vermarktete. Heute profitieren vor allem Drogendealer.

Andrea Hoferichter

Rückblende 1874: An der St. Mary’s Hospital Medical School in London braut der Chemiker Charles Romley Alder Wright – gepflegter Vollbart, onduliertes Haupthaar – eine Substanz zusammen, die noch heute das Zeug zum sozialen Sprengstoff hat und für viele Menschen zur Todesfalle wird. Der Chemiker gab Morphin und eine Variante der Essigsäure zusammen, erhitzte die Mischung und erzeugte so Diacetylmorphin – nadelförmige Kristalle, die auch Diamorphin genannt werden oder Heroin.

Bayer verkaufte Heroinpulver anfangs pur in Gläsern. Die ursprüngliche Dosierungsempfehlung – bis zu dreimal täglich 10 bis 20 Milligramm – wurde nach Ärzteprotesten halbiert., Foto: Mpv_51 / Wikipedia
Bayer verkaufte Heroinpulver anfangs pur in Gläsern. Die ursprüngliche Dosierungsempfehlung – bis zu dreimal täglich 10 bis 20 Milligramm – wurde nach Ärzteprotesten halbiert.
Foto: Mpv_51 / Wikipedia

Die Bezeichnung Heroin – wie Heroine für Heldin im Griechischen – erhielt der Stoff allerdings erst 24 Jahre später bei Bayer, in den Elberfelder Farbenwerken. Der Chemiker Felix Hoffmann kochte dort Wrights Rezept nach – elf Tage, nachdem er erstmals Aspirin hergestellt hatte. Er befand, das Produkt habe ähnliche Eigenschaften wie der Hustenstiller Codein, für den wegen des Suchtpotenzials Alternativen gesucht wurden. Die Bayer-Verantwortlichen machten schnell ein noch breiteres Anwendungsspektrum aus: Heroin solle unter anderem gegen Husten, Schmerzen und bei Herzerkrankungen helfen, gegen Depressionen und Nymphomanie, hieß es. Als Belege galten Experimente mit Fischen, Kaninchen und Katzen sowie Selbstversuche und Behandlungen von ahnungslosen Werksangehörigen, wie der Berliner Mediziner Michael de Ridder in seinem Buch Heroin schreibt. Dabei sei es besser verträglich als Codein oder Morphin.