MIT Technology Review 5/2024
S. 80
Report
Medizin
Der Vagusnerv ist für die Elektromedizin von großer Bedeutung: Er ist in Halsnähe recht leicht erreichbar und über feinste Verzweigungen mit praktisch allen inneren Organen verbunden.
Der Vagusnerv ist für die Elektromedizin von großer Bedeutung: Er ist in Halsnähe recht leicht erreichbar und über feinste Verzweigungen mit praktisch allen inneren Organen verbunden.
Bild: Wellcome Collection

Strom statt Spritze

Die Pharmaindustrie investiert viel Geld in die Vision, mit Elektrizität Krankheiten zu heilen. Der Fortschritt läuft zwar schleppender als geplant, doch die Erfolgsmeldungen mehren sich.

Sally Adee (Übersetzung: Andrea Hoferichter)

Vor etwa 10 bis 15 Jahren schien die „Elektromedizin“ reif für eine Staffelstabübergabe in der Arztpraxis zu sein: Die Forschung zum Einfluss des Nervensystems auf Immunreaktionen eröffnete Möglichkeiten, sich über gezielte elektrische Impulse in die Schaltkreise des Körpers zu hacken und eine Vielzahl chronischer Krankheiten wie rheumatoide Arthritis, Asthma oder Diabetes zu kontrollieren. Gelingen sollte das mithilfe von „Electroceuticals“, wie 2013 in einem Artikel in Nature zu lesen war. „Wir entwickeln Geräte, die Medikamente ersetzen können“, erklärte der Co-Autor und Neurochirurg Kevin Tracey gegenüber Wired UK. Toxische Nebenwirkungen gäbe es dann nicht mehr und auch kein Rätselraten, ob ein Medikament bei einem Menschen anders wirke als bei einem anderen.

Die verheißungsvolle Vision ließ viel Geld fließen: Der an der Publikation beteiligte britische Pharmariese GlaxoSmithKline (GSK) zum Beispiel rief einen Forschungspreis in Höhe von einer Million Dollar aus, schuf einen Risikofonds in Höhe von 50 Millionen Dollar und ein Finanzierungsprogramm für 40 Wissenschaftler:innen. Diese sollten Nervenbahnen identifizieren, über die sich bestimmte Krankheiten kontrollieren lassen. Seither wurde insgesamt rund eine Milliarde Dollar in die Forschung zur bioelektrischen Medizin investiert – und Fortschritte wurden erzielt. Implantate für die elektrische neurologische Manipulation des Immunsystems sind bereits in der klinischen Erprobung und zwei Unternehmen, an denen GSK und Tracey beteiligt sind, wollen im Laufe dieses Jahres den Start weiterer Studien bekannt geben. Das Ziel ist einem GSK-Manager zufolge, „dass die erste Therapie, die die elektrische Sprache unseres Körpers spricht, Ende dieses Jahrzehnts bereit für die Zulassung ist.“