Als Computer Götter waren

"Spacewar!" am MIT

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1960 waren Computer etwas Sakrales. Sie standen meist an Universitäten in abgeschirmten Räumen, die nur eine ausgewählte Elite betreten durfte. Programmierer gaben ihren Code als Lochstreifen - die Vorläufer der Diskette - an Techniker, die dann den Computer damit fütterten. Gerade mal 6000 Rechner existierten damals in den Vereinigten Staaten.

Im Sommer 1961 begann diese Aura der Heiligkeit zu verschwinden. Langsam schrumpften die Computer, bis sie nicht mehr groß genug waren, Gotteshäuser gleiche Räume zu füllen. Sie verließen die Universitäten und geheimen Stützpunkte, um als Heimcomputer noch weiter zu schrumpfen, sich tiefer und tiefer in das Alltag genannte Gewebe zu spinnen. All das begann mit dem Geschenk einer jungen Firma namens "Digital Equipment Corporation" (DEC) an das "Massachusetts Institute of Technology" (MIT) in Cambridge 1960: der erste Minicomputer der Welt.

Eigentlich war es das zweite Modell der PDP-1 (Personal Digital Processor) Reihe und eigentlich bedeutete "Mini" damals auch die Größe von drei Kühlschränken. Es war dennoch eine Revolution. Im Gegensatz zu den wesentlich größeren IBM-Maschinen verlangte der PDP-1 zum Anschalten nicht mehrere Menschen, die in der richtigen Reihenfolge Stromschalter betätigten. Das war zum Beispiel beim 1955 erschienenen IBM 704 nötig. Dem "sperrigen Riesen", dessen blinkende Frontseite über Jahre in Filmen zu sehen war, mussten bei Betrieb stets drei Menschen zu Diensten stehen. Wenn die Lüftung ausfiel, ertönte ein Gong, woraufhin schnellstens die Abdeckplatten entfernt wurden, um die millionenteuren Innereien vor dem Schmelzen zu bewahren. Das war beim PDP-1 nicht nötig. Auch musste ihm nicht jedem Morgen von neuem ein Programmierer das Lesen von Lochstreifen beibringen. Stattdessen reichte ein Knopfdruck für die Betriebsbereitschaft.

Vor allem aber war das Arbeiten am PDP-1 interaktiv: Statt die Ergebnisse eines Programms erst am nächsten Tag zu bekommen wie bei den IBM-Rechnern in ihren heiligen Hallen, ließ sich der PDP-1 programmieren und gab Ergebnisse sofort durch eine elektrische Schreibmaschine aus. Dazu kam ein Bildschirm. Statt seine Benutzer zu Dienern zu machen, arbeitete der PDP-1 mit ihnen zusammen, zumindest ein wenig mehr als andere Computer damals. Der beste Freund eines Hackers also. Und die gab es schon 1961.

MIT-Student Stephen Russell etwa, damals Mitte 20. Er hatte schon an der Harvard Universität am Institut für Statistik mit dem IBM 704 gearbeitet, wechselte dann zum MIT, dem Biotop der Hacker-Subkultur. "Im Tech Model Railroad Club" (TMRC) kamen dort Studenten zusammen, die den größten Teil ihrer Freizeit - und auch ihrer Unterrichtsstunden - Computern und Elektronik widmeten. Ursprünglich war der TMRC ein Verein von Modelleisenbahnfans. Anfang der sechziger Jahre allerdings wuchs die Fraktion derjenigen, die mehr Spaß an komplexen elektronischen Signalanlagen statt naturgetreuen Landschaften hatten. Der Kern dieser Gruppe hatte an einem Wochenende im September 1961 einen Assembler - ein Programm, das Programmiersprache in Maschinensprache übersetzt - für den PDP-1 programmiert. Sechs Leute leisteten etwa 250 Arbeitsstunden - etwa vierzig Stunden Arbeit an zwei Tagen für jeden.

Einer von ihnen war Stephen Russell. Er machte ein wenig später den Fehler, den Assembler-Mitstreitern von seiner Idee eines Computerspiels für den PDP-1 zu erzählen. Ab da hatte er keine Ruhe, bis "Spacewar!" im Februar 1962 nach etwa 200 Arbeitsstunden in sechs Monaten auf dem PDP-1 lief.

Das Spiel sah so aus: Zwei Raumschiffe mit begrenztem Treibstoffvorrat kämpfen gegeneinander. Die Spieler steuern ihre Schiffe mit je vier Knöpfen an der Bedienungskonsole des PDP-1: Drehung im Uhrzeigersinn, Drehung gegen den Uhrzeigersinn, Beschleunigung, Torpedoschuss. Dieses Spielprinzip ist zum Einen klassische Hacker-Subkultur. Russell und seine Kollegen lasen ebenso begeistert die Space Operas von E.E. "Doc" Smith wie sie sich japanische B-Movies ansahen. Zum Anderen aber ist "Spacewar!" ein Produkt des kalten Kriegs: der Kampf zweier Gegner bis zur Vernichtung, der Weltraum als Ort der entscheidenden Schlacht, die Rakete als Leittechnik. Hier reflektiert das Spiel seine Entstehungsgeschichte. Denn ohne die kollektive Paranoia der späten 50er Jahre infolge des Sputnik-Starts 1958 hätte es nie eine solch enorme Aufrüstung in der Computertechnologie gegeben. Wie schon im Zweiten Weltkrieg flossen reichlich Gelder aus dem Verteidigungshaushalt in Forschung und Ausstattung mit Computern. Das MIT erhielt zum Beispiel vom US-Verteidigungsministerium jährlich allein drei Millionen Dollar für ein Time-Sharing Projekt, das mehreren Nutzern zugleich Zugriff auf einen Computer ermöglichte.

Das Gameplay von "Spacewar!" unterschied sich zunächst kaum von "Tennis for two". Der Mensch ist des Menschen Spielpartner, der Computer schafft den Spielraum. Allerdings wurde die Entwicklung wesentlich von einem der Vorteile digitaler Rechner beeinflusst: Programme lassen sich ohne zeitaufwendige Arbeit an der Hardware verändern. Hinzu kam die Kraft von Open-Source Software. Russell und seine Miterfinder überließen "Spacewar!" nicht nur ihren Mitstudenten am MIT kostenlos, sie gaben auch dem Unternehmen DEC eine Kopie, die zum Vorführen neuer Geräte verwendet wurde.

"Spacewar!" wurde bekannt - und verbessert. Peter Samson etwa erweiterte das Spiel um einen realistischen Sternenhimmel. Dan Edwards fügte eine Sonne ein. Ihre Anziehungskraft bereicherte das Spiel um eine strategische Komponente. Spieler konnten diese für eine enorme Beschleunigung benutzten, allerdings mit dem Risiko zu verglühen. Zudem nutzte die Anziehungskraft der Dramaturgie, da Spieler nicht mehr tatenlos in einer Ecke warten konnten, bis der Gegner näher kam. Es folgten zahlreiche weitere Modifikationen. Shag Garetz etwa programmierte einen Hyperspace-Option, mit der ein Schiff im Spiel augenblicklich von einem brenzligen Ort verschwinden konnte - allerdings nach dem Zufallsprinzip an einem beliebigen Punkt wieder auftauchte. Es gab unzählige Versionen, in denen Spieler die Stärke der Gravitation, die Anzahl der Torpedos oder ähnliches selbst vorherbestimmen konnten.

Hier hatten Russell und Konsorten ein wesentliches Element des Computerspiels geschaffen. Russell selbst beschrieb es so: "Indem wir eine Welt wählten, welche die Leute nicht kennen, konnten wir zahlreiche Parameter ändern, um eine gutes Spiel zu ermöglichen."Die Welt von "Spacewar!" ist keine Spiegelung einer realen. Sie ist vielmehr eine von den Programmierern vorgegebene und von den Spielern in einigen Parameter geänderte Fiktion. Das vergisst der Spieler aber, denn er muss die Eigengesetzlichkeit der Spielwelt erkennen und nutzen. Die Frage nach Realität stellt sich nicht.

Stephen Russell und seine Mitarbeiter sind vielleicht nicht die Väter des Computerspiels - immerhin kostete ihr Spielcomputer 120000 Dollar, was kaum an einen Massenmarkt denken ließ - aber sie sind zumindest Väter dieses Konzepts für digitale Computer. Dass die Entwickler nie Urheberrechte geltend machten, trug sicher zum Erfolg von "Spacewar!" bei. Deshalb wurde "Spacewar!" vielleicht auch zu einem der ersten kommerziellen Videospielautomaten.

Im September 1971 kamen der Hacker Bill Pitts und der Ingenieur Hugh Tuck auf die Idee, Geld mit dem beliebten Spiel zu verdienen. Spielen konnte damals nur die kleine Elite der Bevölkerung an Universitäten. Aber auch dort war Computerzeit rar und wurde in Dollar gemessen. Spät nachts konnten die Mitarbeiter der Universität für ein paar Stunden mit den Computern kostenlos machen, was sie wollten. Pitts und Tuck kauften für 20000 Dollar einen PDP-11 Rechner und ein Display. Sie schraubten einen Münzeinwurf dran und stellten den Spielautomaten in ein Cafe nahe der Stanford Universität. Bis Mai 1979 hielt das Gerät durch und bis dahin brachte es auch gutes Geld. Zum zweiten Mal nach "Tennis für Two" war eine für jedermann interessante Computeranwendung entstanden.

Die Computergötter wurden nicht nur kleiner, sie hatten auch ihren Himmel verlassen, standen in Cafes und begannen, sich auf den Weg ins Wohnzimmer zu machen. "Spacewar!" hatte gezeigt, dass Computer auch Spaß machen können. Stephen Russell ist sich sicher: "Spacewar hat viele Menschen zum Programmieren gebracht."

Peter Hirschberg und Josh Cogliati: Space Wars (PC)
Barry Silverman, Brian Silverman, Vadim Gerasimov: Online-Version Spacewar!

Bücher:

J.C. Herz: "Joystick Nation". London, 1997.
Steven L. Kent: "The First Quarter : A 25-year History of Video Games". Bothel, 2000. S.13 ff.
Steven Levy: "Hackers". New York, 1984. S. 59-69
Steven Poole: "Trigger Happy", London 2000. S.29ff
Matthew Jon Southern: "The Cultural Study of Videogames". Liverpool 2000. (zu beziehen beim Autor

Zeitschriften:

Stewart Brand: Spacewar - Fanatic Life and Symbolic Death Among the Computer Bums. in: Rolling Stone, 7.12.1972
J. Edwards, J. M. Graetz: PDP-1 plays at Spacewar. in: Decuscope, April 1962
J. M. Graetz: The origin of Spacewar. in: "Creative Computing magazine", August 1981