Ausgebrannt und übermüdet: Der hohe Preis der Leistungsgesellschaft

Schlafmangel hat gravierende Folgen für unsere Gesundheit
(Bild: mady70/Shutterstock.com)
Schlafmangel ist eine Krankheit – die Folgen gravierend. Warum Zeitkonflikte, Schlafqualität und Arbeitsbedingungen ein Zukunftsthema sind. Ein Debattenbeitrag.
Die Augen werden schwer, die Konzentration lässt nach, die Buchstaben auf dem Computer verschwimmen zu einem Brei: Diagnose Schlafmangel. Wer zu wenig schläft, ist weniger leistungsfähig. Spürt weniger Lebensfreude, steht neben sich.
Doch der Zusammenhang geht tiefer, es ist ein Kreislauf: Eine auf Wachstum, Leistung und Gewinnertypen getrimmte Wirtschaft verzeiht keine individuellen Schwächen. Die in den sozialen Medien als Low-Performer Diskreditierten mit dem Minimalanspruch auf ein Drittel Schlaf am Arbeitstag gelten nicht als Vorbilder.
Die aufgeworfene Frage nach Lebensqualität und Erholung wird, im Vergleich zu Migration, Krieg oder dem Wohlergehen der Wirtschaft, selten diskutiert. Dabei kann es potentiell jeden betreffen: ein Drittel der Deutschen kämpft mit dem Schlaf, diagnostizierte Schlafstörungen sind von 2011 bis 2021 um 77 Prozent gestiegen.
Blick in die Empirie
Deutschland zeichnet sich durch ein, gemessen an der Produktivität, niedriges Lohnniveau aus. Zwar liegen in Deutschland die Arbeitskosten bei durchschnittlich 41,30 Euro pro Stunde, doch sei dies kein Standortnachteil, sagt der Arbeitsmarktexperte des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, Alexander Herzog-Stein. Die Produktivität sei vergleichsweise hoch.
Dennoch brauchen viele bei Verschwinden der imaginären sozialen Hängematte zwei Einkommensquellen, um ihren Lebensstandard zu halten, die Miete zu bezahlen oder den Kühlschrank zu füllen.
Ein Perpetuum mobile der Knochenschinderei: Laut Statistischem Bundesamt betraf dies im Jahr 2023 1,9 Millionen Erwerbstätige in Deutschland, die mehr als eine Tätigkeit ausüben. Sie gelten als Mehrfachbeschäftigte.
Zu dieser volatilen Gruppe kommt ein Aspekt hinzu, der in Deutschland in die moralisierende Arbeitsethik eingebettet ist. Deutschland ist ein Überstundenland. Die Politik schraubt noch immer an der gesetzlichen Aushöhlung der 40-Stunden-Woche, die für viele nur auf dem Papier besteht. Im Jahr 2023 leisteten die Deutschen fast 1,3 Milliarden Überstunden, in der Regel unbezahlt, was einer 32-Stunden-Woche pro Beschäftigtem oder 835.000 Vollzeitstellen entspricht.
Irrwitzigerweise hat das deutsche Nachbarland Österreich 2018 den 12-Stunden-Tag legalisiert, im "Bedarfsfall" darf 60 Stunden pro Woche geackert werden.
Risikofaktor Vagina
Man ahnt es, die weibliche Hälfte der Welt ist besonders gefährdet. Frauen werden qua Geschlecht, Rollenstereotypen und der ökonomischen Struktur der Kleinfamilie in Teilzeitarbeit und schlecht bezahlte Jobs gedrängt.
Zudem, und das belastet Schlafqualität und Rhythmus ausgesprochen, tragen sie 44 Prozent mehr Anteil an der familiären und außerhäuslichen Care-Arbeit, der sogenannten Leistung in Haushalt und Familien- wie Bekanntenkreis. Während Männer laut Bundesfamilienministerium "nur" 21 Stunden pro Woche für unbezahlte Care-Arbeit aufwenden, arbeiten Frauen rund 30 Stunden für Partnerschaft, Angehörige und Kinder.
Es sind die Frauen, die nachts das Kind ins Bett bringen oder auf Freizeit, Freunde und Feierabend verzichten, wenn die Familie ruft, auch wenn sich bei der jüngeren Männergeneration eine Trendwende abzeichnet.
Die biologische Tatsache der Geburt und ihrer neunmonatigen Vorbereitung ist in der Regel mit schlechtem Schlaf gesegnet, nicht umsonst war Thaliodomid, die pharmakologische Bezeichnung für das Medikament Contergan, das als Schlaf- und Beruhigungsmittel entwickelt wurde und aufgrund von Missbildungen von Föten bei dieser Anwendung einen Skandal auslöste.
Gender Care und Gender Pay Gap (der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen, im letzten Jahr waren es 4,10 Euro pro Stunde) haben somit auch diametrale Auswirkungen auf die Erholung und den Schlaf des weiblichen Teils der Gesellschaft.
Schlaflose Nächte
Der Volksmund kennt den Ausdruck "schlaflose Nacht" entweder für eine durchzechte Nacht oder für das im Kopf kreisende Gedankenkarussell, das den Schlaf raubt. Beides ungesund.
In der Regel braucht ein Erwachsener zwischen 7 und 8 Stunden Schlaf, manche sogar 9 bis 10 Stunden. Dr. Christian Lechner, Schlafmediziner an der Helios-Klinik in Passau, erklärt: "Oft haben Menschen mit Schlafmangel auch Probleme mit dem Gewicht und ein erhöhtes Risiko für einen Schlaganfall, Herzinfarkt, Diabetes und Unfälle."
Denn im Schlaf erholen sich Körper und Geist nicht nur, sondern regenerieren sich auch. Wundheilung und Zellregeneration werden angeregt, Adrenalin wird abgebaut.
Am stärksten von gesundheitsgefährdenden Verkürzungen betroffen ist die REM-Schlafphase, die für die Überführung von Informationen aus dem Kurz- ins Langzeitgedächtnis zuständig ist und in der zweiten Schlafhälfte stattfindet. Kurzum: Wer kürzer schläft, vergisst häufiger, Reaktion und Konzentration lassen deutlich nach.
Die Burn-out-Quote steigt und wie eine schwedische Studie nahelegt, führt Schlafmangel dazu, dass unausgeschlafene Kollegen gereizter, empfindlicher und allgemein negativer auf die Arbeit reagieren als ihre ausgeschlafenen Kollegen. Das setzt den bereits erwähnten Teufelskreis in Gang: Mangelnde Leistung führt zu Misserfolg und führt zu intensiverer und längerer Arbeit, was wiederum zu weniger Schlaf führt.
Aus der Traum
Jeder Mensch hat 24 Stunden am Tag, alle Verpflichtungen in dieses enge Zeitfenster zu pressen, gleicht der Quadratur des Kreises. Langschläfer gelten in der Leistungsgesellschaft als faul. Schlafmangel im Job ist ein Leistungskiller. Doch: Im Kapitalismus sind es oft die Lohnarbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen, die Träume platzen lassen.
Ein Beispiel: Wie eine Studie des Instituts für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) herausgefunden hat, führt Schichtarbeit (insbesondere Frühschicht) zu Schlafmangel.
Das Risiko, weniger als sieben Stunden pro Nacht zu schlafen, ist bei Frühschichtlern viermal höher als bei Spätarbeitern. Die Folgen sind Krankheiten, aber auch, wie eine Metaanalyse zeigt, ein Anstieg der Arbeitsunfälle. Rund 13 Prozent der Unfälle sind auf Schlafmangel zurückzuführen.
Stress, Stress, Stress
Eine Untersuchung im Auftrag der Techniker Krankenkasse zeigt zudem, dass 40 Prozent der Schlechtschläfer in der Gruppe der Schichtarbeiter zu finden sind. Arbeitsbedingungen als Kern des Schlafproblems?
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Wie die Wiener Arbeiterkammer in einer Handreichung anführt hat, wird schlechter Schlaf in erster Linie durch arbeitsbedingten Stress verursacht: Mangelnde Unterstützung, gestiegene Arbeitsanforderungen (in Umfang und Komplexität) sowie fehlende Einflussnahme auf Ablauf und konkrete Gestaltung gelten als Stressfaktoren.
Aber auch Personen mit flexiblen Arbeitszeiten, Telearbeiter im Home-Office, Solo-Selbstständige oder Start-up-Beschäftigte rangieren mit 30 Prozent auf Position zwei der Gefährdungsskala.
Der Stanford-Professor und Buchautor Jeffrey Pfeffer geht einen Schritt weiter und trifft den Kern: Die heutige Arbeitswelt sei "erschreckend unmenschlich". Im Einklang mit der deutschen Industriegewerkschaft IG Metall nennt Pfeffer unter anderem die Entgrenzung der Arbeitszeit als Ursache.
Dazu kommen"Überstunden, rücksichtslose Vorgesetzte, unberechenbare Arbeitszeiten und E-Mails nach Feierabend, aber auch angedrohte oder tatsächliche Entlassungen, finanzieller Druck und Unsicherheit", erklärt die Zeit unter Berufung auf Pfeiffer.
Arbeitszeiten als "Thema Nummer eins"
Schlafmangel lässt sich in erster Linie durch regelmäßiges und ausreichendes Schlafen beheben. Eine Binse. Auch ein Besuch im Schlaflabor, frische Luft und Sport, Atemübungen sowie eine gesunde Ernährung versprechen Abhilfe, die Apotheken Rundschau empfiehlt den Griff zu "pflanzlichen oder pharmakologischen Schlafmitteln".
Doch all die genannten Maßnahmen sind Schall und Rauch, wenn Stress, Hektik und Arbeitsbedingungen anhalten. Die Arbeitsbedingungen sind Ursache, aber auch Teil der Lösung des menschengemachten Problems.
In erster Linie müssten Schicht- und Nachtarbeit, entgegen allen biologischen Grundkategorien der Spezies Mensch, drastisch reduziert oder abgeschafft werden. Letztlich bedarf es wohl einer gesellschaftlichen Debatte über die Frage "Wie wollen wir leben und arbeiten? Die Hans-Böckler-Stiftung bewertet dieses Thema in einer Veröffentlichung von 2017 als "Gewerkschaftsthema Nummer eins".
Der gesellschaftliche Zeitkonflikt – im Spagat zwischen Kind und Kegel und der Forderung nach der 35-Stunden-Woche – ist ein Zukunftsthema. Wer weniger arbeitet, hat mehr vom Tag und mehr Schlaf.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung des Artikels hieß es, Menschen in Deutschland würden im Schnitt 41,30 Euro pro Stunde verdienen. Das ist falsch. Gemeint sind die Arbeitskosten, die sowohl die Löhne als auch die Lohnnebenkosten umfassen. Die Grundaussage bleibt dadurch allerdings unverändert: Laut Hans-Böckler-Stiftung sind diese Arbeitskosten kein Standortnachteil.