Chinas Rolle in einer neuen globalen Ordnung

100 Jahre Kommunistische Partei Chinas: Beobachtungen eines Nichthistorikers und Nichtmarxisten zu China. Ein Essay (Teil 1)

Eine nahezu 5.000 Jahre alte Kultur, eine rund 3.000 Jahre alte (relativ) einheitliche Nation, 9,5 Millionen Quadratkilometer Festland, davon aber nur etwa acht Prozent der agrarisch nutzbaren Fläche der Welt bei knapp 20 Prozent der Weltbevölkerung, also 1,4 Milliarden Menschen – das ist China. Unter anderem.

China hat sich in den letzten Jahrzehnten von einer der ärmsten Nationen, als die der europäische, japanische und US-amerikanische Kolonialismus das historisch stets reiche Land nach einem "Jahrhundert der Demütigung", Auspressung, Zerschlagung, der Paralysierung durch Rauschgift, also das englisch-indische Opium, und eines grandiosen Wissensdiebstahls hinterlassen hatte, zu einer modernen Industrienation und faktisch zur neuen Nummer Eins entwickelt hat. Seit 2016 ist es das bereits beim Sozialprodukt (BIP) zu Kaufkraftparitäten (KKP).

Bis zur Jahrhundertmitte wird also die alte historische Normalität, wonach China über Jahrtausende stets eines der reichsten Länder der Welt war und immer rund 30 bis 40 Prozent des Weltsozialprodukts erstellt hat, wieder die neue Normalität sein. Es wäre auch geradezu ein Wunder, eine Abnormalität, wenn eine Bevölkerung von 1,4 Milliarden nicht eine der größten und leistungsfähigsten Ökonomien der Welt entwickeln würde.

Der Wiederaufstieg Chinas zur neuen alten historischen Normalität, und der entsprechende Abstieg der USA zur Nummer zwei und bis 2030 dann vermutlich zur Nummer drei (so die Standard Chartered Bank), ist also erstens unaufhaltsam, wie schon jede oberflächliche Faktoren-Analyse ergibt, und zweitens alles andere als ein Grund für wilde Beißreflexe, neuen Kalten Krieg und permanente Militärmanöver des Westens vor Chinas Stränden.

Wo sind eigentlich die Heerscharen von Marketingleuten im Westen, die Washington, Berlin, Paris, London und Brüssel mal sagen, was man tut, wenn sich das eigene "Marktumfeld" nachhaltig verändert: Kreatives Anpassen, sich neu erfinden, "Disruption" der eigenen Strategie … das weiß schon jeder BWL-Student im vierten Semester. Man zieht eben nicht mit der Knarre vor den Hauptsitz des Konkurrenten, um ihm die Scheiben einzuschießen. Diese Zeiten sollten im globalen Staatensystem genauso vorbei sein wie Al Capone tot ist.

Abgesehen davon wird zur Mitte dieses Jahrhunderts zumindest in China das Sozialprodukt durch andere Erfolgsmaße abgelöst sein (den Human Development Index der UN, UNDP oder Unep, andere multidimensionale Maße, Vertrauens- und Glücksmaße u.ä.) und wird China definitiv in kein Wettrennen mehr um das Sozialprodukt pro Kopf mit den führenden Ländern des Westens eintreten. Wir werden es vielleicht sogar noch erleben, dass auch im Westen das Sozialprodukt pro Kopf, auf das wir so stolz sind, weil wir hier die globale Hitliste anführen, als völlig obsolet, fehlinformierend und fehlanreizend erkannt wird. In China jedenfalls wird auch in offiziellen Dokumenten inzwischen diskutiert, was künftig "Erfolg", "Wohlstand" und "Glück" sein können.

China als Triebkraft einer (Re-)Globalisierung

China ist übrigens vor allem deshalb die Nummer eins, weil es sein noch bescheidenes Sozialprodukt pro Kopf (Weltrangplatz in den hohen 50er-Jahren, zu KKP etwas höher gerankt), mit dem es soeben erst in die Gruppe der Länder mit höherem mittleren Einkommen (lt. Weltbank-Definition) eingetreten ist, in allen technologischen, ökologischen, investiven, einkommensmäßigen, infrastrukturellen, sozialen, bildungs-, mobilisierungs- und vertrauensbezogenen Bereichen in historisch einzigartigem Ausmaß "hebelt".

Wir können hier keinen ausgiebigen Quellenapparat bedienen und verweisen nur auf den bekannten "Catch-all"-Indikator, der auf komplexe Weisen mit den meisten sozialökonomischen Zuständen verbunden ist, die Lebenserwartung, die in China im Rahmen des laufenden 14. Fünf-Jahres-Plans die der USA, die im Übrigen sinkt, überholen wird.

Dass China "plötzlich" auch die Triebkraft einer neuen, anderen (Re-)Globalisierung ist (nach den vielfältigen ökonomischen und politischen Deglobalisierungen seit 2008), dass es nun auch eine "Neue Seidenstraße" im Bereich des Gesundheitswesens, mit seinen mehr als 140 "Belt-and-Road"(BRI)-Partnerländern und mehr als 40 internationalen Partnerorganisationen aufgebaut hat (Versorgung mit Schutzgütern im Jahr 2020 und mit Impfstoffen im Jahr 2021), dass es "plötzlich" auch als Gesundheits-Weltmacht erkannt wird, die sogar den "hoch entwickelten" westlichen Führungsländern geholfen hat, konnte nur diejenigen überraschen, die sich bisher noch nicht mit China (oder auch nur mit den anderen gemeinschaftsorientierten Kulturen Südostasiens) beschäftigt hatten - und noch nie selbst einmal in China waren.

Dass die "führenden" westlichen Systeme in Europa in der Pandemie zumindest vorübergehend, zum Teil aber auch anhaltend, vor aller Welt den Eindruck von Unvorbereitetsein, Unorganisiertheit, Unfähigkeit und oft Chaos hinterließen und die EU etliche Monate brauchte, um überhaupt wieder Tritt zu fassen, dürfte im Westen allenthalben als peinlich empfunden worden sein.

Und der Eindruck hat definitiv auch das allgemeine Bewusstsein in der Welt verändert. Aber die überwiegende mediale und politische Reaktion des erkennbar verschärften China-Bashings, dominierender Häme, systematischer Fehlinformation und Falsch-Interpretationen von Vorgängen, die mit China zu tun haben, nützen niemandem.

Im Gegenteil, die Gefahr einer medialen, informatorischen Käseglocke in Europa (vom ideologisch überschäumenden Politzirkus in Washington, der die gravierenden innere Probleme vernebelt, ganz zu schweigen), die unser Publikum zumindest schlecht informiert hinterlässt, ist kontraproduktiv für unsere eigene Entwicklung.

Mit einer vor der (eurasischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen) Weltöffentlichkeit unglaubwürdigen aggressiven Menschenrechtelei kann man vielleicht noch die eigenen Reihen der gegebenenfalls 30 Staaten der westlichen Welt schließen, man gewinnt damit weltweit aber keinen Blumentopf mehr. Denn im eigenen Herrschaftsbereich gäbe es menschenrechtlich mehr als genug zu tun.

Unsere westlichen Nationen werden so auch auf eine neue Art gespalten, zwischen Managern, Ingenieuren, Technikern, Wissenschaftlern und sogar einfachen Touristen, die sich bereits einmal in China aufgehalten haben, und dem (weit größeren) "Rest". Wir dürfen uns nicht informatorisch und mental von den dynamischsten Regionen der Welt abkoppeln, denn der Rest der Welt, namentlich China, entwickelt sich quantitativ hochdynamisch und qualitativ hoch spannend und in vieler Hinsicht innovativ weiter.

China ist sich seiner selbst bewusst. Und der Westen?

Und Abstiegsängste und Wut (über eigenes Versagen?) sind ein schlechter Ratgeber für unsere Strategien, zumindest wenn wir eine kooperierende Welt des Wohlergehens für alle anstreben und keinen fragmentierten, "entkoppelten" Kalte-Kriegs-Käfig, mit alten statischen Umverteilungskämpfen und Ressourcenklau zulasten der Südhalbkugel. Man frage die Manager und Ingenieure der Konzerne, die den größten Teil ihrer Gewinne in China machen.

Und schließlich kann es uns nicht unberührt lassen, wenn die durchschnittliche Chinesin erkennbar besser über Deutschland informiert ist als umgekehrt (und die meisten Zuschauer der Online-Produktionen eines großen Berliner Theaters in China leben).

Strategische Selbst-Reflexion und die eigene Neuerfindung unter einer anderen globalen Struktur würden bedeuten, dass die Länder des Westens ernsthaft beginnen, ihre wirtschaftlich-industriellen, technologisch-ökologischen und sozialen Ziele für 2035, 2050, 2060 zu klären. Wer und was wollen wir dann sein und können?

Nur daraus fließt das "(sich seiner) Selbst-Bewusstsein", das es uns erlauben würde, auf Augenhöhe mit China über alles zu verhandeln. China erarbeitet sich dieses Selbst-Bewusstsein, und der jüngste 14. Fünf-Jahres-Plan ist zu Recht von westlichen Konzernen Wort für Wort durchanalysiert worden. Er ist in Vielem schlicht spektakulär.

Und China bietet nicht nur an, über alles zu verhandeln, es hat auch kein Interesse an wirtschaftlich schwachen Partnern, kein Interesse etwa an völlig deindustrialisierten USA, da es sich längst vom Export-Weltmeister-Modell verabschiedet und außenwirtschaftlichen Ausgleich erzielt hat (mit dem bekannten Corona-bedingten Ausreißer 2020). Chinas Exportüberschuss mit den USA beträgt inzwischen weniger als ein Prozent des chinesischen BIP.

Warum greifen wir solche Angebote nicht auf? Etwa aus Angst, dass unsere eigenen verknöcherten Strukturen der Finanzialisierung, Oligopolisierung, Oligarchisierung und Plutokratie, unsere neoliberal ruinierten Staaten und kollektiven Handlungsunfähigkeiten es nicht mehr zulassen, dass wir noch irgendwelche disruptiven sozialökonomischen Veränderungen (außer vielleicht noch die letzten Privatisierungen) überhaupt organisieren können?

Die Peinlichkeiten häufen sich, zumindest in den Augen der Welt: Während die Diplomaten der Welt nach Xinjiang reisen, schlagen die Diplomaten der westlichen Führungsländer das Besuchsangebot fadenscheinig aus. Die Defensivität lugt durch die Knopflöcher auch unseres Außenministers, von dem im Oktober niemand mehr spricht.

Bleiben wir realistisch und schauen wir genauer hin: China hat die Entwicklung von einem armen Entwicklungsland zum führenden Industriestaat und zur neuen Nummer eins auf den Grundlagen, die mit der sozialistischen Revolution und der Gründung der Volksrepublik 1949 geschaffen worden sind, erzielt.

Unter der neoliberalen Ägide der Pax Americana seit Ende der 1970er ist es außer China keinem größeren Land mehr gelungen (vielleicht noch Vietnam und einigen anderen Kleinen), nachhaltig aufzusteigen. Alle, vor allem der lateinamerikanische Hinterhof des Hegemons, sind ökonomisch in der "Falle des mittleren Einkommens", einer Degeneration steckengeblieben, mit erlahmter Produktivitätsentwicklung, mit Produktionsrückgängen, Deindustrialisierung, Dequalifizierungen zu reinen agrar- und Ressourcenlieferanten, mit oligarchischen Deformierungen und einseitigen außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Abhängigkeiten.

Als die USA aufwachten, war es zu spät

Der Hegemon und sein Anhang wollten Chinas Entwicklung lange Zeit gar nicht verhindern, konnten doch die umweltbelastenden und Billigproduktionen ebenso wie die eigenen Industrie- und Konsum-Abfälle elegant nach China und Südostasien ausgelagert und die eigene Ökobilanz geschönt werden.

Als Washington nach der großen Finanzkrise 2008 aufwachte, seine qualitativ verschlechterte globale Position und die Schwäche seiner wenigen verbliebenen Säulen (Wall Street/Dollar, IT-Oligopole und Militär) erkannte, es die Hoffnung auf eine neoliberale Einhegung Chinas in der WTO aufgeben musste und seine strategische Grundstrategie von Einhegung auf Konfrontation umschaltete, war es zu spät.

Dass China heute eine umfassende Reform-und-Öffnung 2.0 vornehmen kann, während die EU die enorme Chance des China-EU-Investitionsschutzabkommens (CAI) vermutlich verspielen wird, deutsche Konzerne, US-amerikanische Banken und weltweite Finanzinvestoren inzwischen nach Shanghai und Shenzhen wallfahren, dass sie dabei die Fakten würdigen, von sicheren Investitionsbedingungen, millionenfachem jungem Unternehmertum, guter Infrastruktur, guten Zulieferern und Facharbeitskräften, ökologischem Fortschritt, kluger industrieller Clusterpolitik, einem produktiven Experimentalismus, einer Leichtigkeit des Wandels bei den Menschen sowie qualifizierter und verlässlicher öffentlicher Handlungsfähigkeit, kann nicht anders denn als eine Position der Stärke Chinas interpretiert werden.

Ausländische Konzernmanager und Professionals würdigen es zum Beispiel auch, dass sie eine Beschwerdeinstanz beim chinesischen Ministerpräsidenten haben und Verbesserungsvorschläge machen können - und dass sie merken, dass dann meist auch schnell und effektiv gehandelt wird.

Unterschätzen wir also nicht, was seit 1949 an Produktivitätsentwicklung, Infrastruktur, Langfristplanung und Mentalität in den Tiefenstrukturen Chinas vorbereitet wurde, was lange Zeit auf der Oberfläche nicht erkennbar war und von China nicht an die große Glocke gehängt wurde.

850 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit

China war nicht nur auf diplomatischem Parkett jahrzehntelang extrem zurückhaltend und ließ sich einiges gefallen, was es sich heute nicht mehr gefallen lässt. Wir haben uns angewöhnt, die ersten 30 Jahre der VR China als reine Chaos-Jahre mit Hungersnot, einem verfehlten "Großen Sprung nach vorn", kulturrevolutionärer Zerstörung (von den grünen Ex-Maoisten übrigens nie wirklich aufbereitet) usw., abzutun.

Sich auf diese "Oberflächen"-Entwicklungen zu fokussieren, wäre ein Fehler und würde uns daran hindern, dieses Land, dieses, ja, irgendwie ohne Zweifel und auf neuartige Weisen sozialistische, System und seine Zukunftsperspektiven richtig einzuschätzen.

Es konnte im Wesentlichen nach Reform-und-Öffnung 1.0, also ab 1978, und schon bis etwa Mitte der 2010er-Jahren, also in weniger als 40 Jahren eine Industrialisierung durchlaufen werden, für die die entwickelten, kapitalistischen Industriestaaten etwa 200 Jahre Zeit brauchten.

Und in dieser Zeit ist "ganz nebenbei" die kleine humanitäre Sensation gelungen, etwa 850 Millionen Menschen aus der absoluten Armut zu holen, die Früchte der Industrialisierung also auch nach unten zu verteilen.

Aber was in dieser Zeit an öffentlicher Planungs- und Handlungskapazität, an technologischer und ökologischer Kapazität, an Unternehmertum, Bildung, Lernwille und Reformoffenheit bei den Menschen entstanden ist, wäre ohne das "System", das 1949 errichtet wurde und das alles andere ist als das, was wir aus Europa kannten, das im Gegenteil wiederholt von Fehlern des alten Europa gelernt hat, nicht erklärbar.

Keine Frage, dass China auch massiv vom "alten" Kapitalismus und seinen etablierten Wohlfahrtsstaaten gelernt hat, technologisch, managementmäßig, und die Errichtung der sozialen Sicherungs-Systeme seit Ende der 1990er, gelernt nicht zuletzt von Deutschland, ist heute, produktiv eingebettet, ein Garant für die Leichtigkeit und die berühmte "China Speed" des Wandels.

Wolfram Elsner, geb. 1950, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bremen (i.R.) und war Leiter des Bremer Landesinstituts für Wirtschaftsforschung. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher internationaler Publikationen und Lehrbücher und war Managing Editor, Forum for Social Economics, 2012-2019, sowie Präsident der European Association for Evolutionary Political Economy—EAEPE, 2012-2016. Internationale Lehraufenthalte führten ihn neben Europa nach Australien, Russland, Südafrika, Mexiko und in die USA, wo er als Adjunct Professor an die University of Missouri, Kansas City, tätig war, sowie seit 2015 als Gastprofessor an die School of Economics, Jilin University, Changchun, China, wo er u.a. Sommerschulen für Doktorand:innen organisiert hat. Seit 2019 ist er Editor-in-Chief des Review of Evolutionary Political Economy (REPE). Elsner veröffentlichte 2020 das Buch Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders (Frankfurt: Westend, 384 S.) und 2021 Die Zeitenwende. China, USA und Europa "nach Corona" (Köln: PapyRossa).

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