Der Ursprung aller Popmusik: Ois is Blues
Das Projekt "The Blues" von Martin Scorsese ist gleichermaßen Geschichtsunterricht, Ahnenbeschwörung und Hochamt und beschert dem deutschen Kino-Sommer '04 drei fabelhafte Musikfilme.
Blues-Hören gilt vielfach als etwas Fusselbärtiges, Alt-68er-risches, also äußerst Überholtes. Man denkt an schlechte Sessions in schwäbischen Kleinstadt-Kneipen, an Zipfelgitarristen und Gitarristenzipfel wie Gary Moore, an alternde Stubenhocker, die von "handgemachter" Musik predigen wie Gotthilf Fischer vom deutschen Volkslied oder an Sparkassenabteilungsleiter, die völlig losgelöst im bedruckten T-Shirt zum Eric-Clapton-Open-Air pilgern.
Auch in der Sekundärliteratur ist das Thema Blues ziemlich durch. Das Feuilleton versucht bei der Ahnenforschung derzeit lieber seine jahrelangen Versäumnisse an Johnny Cash wieder gut zu machen. Oder an Dean Martin. Oder an Lee Hazlewood. Oder gar an James Last. Alles schön und gut.
Dabei gerät tatsächlich wieder vieles in Vergessenheit. Nicht nur das schnöd Historische, dass nahezu alle, alle Popmusik, auch der vom Rhythm'n'Blues der Fünfziger abstammende Reggae, vom Blues abstammt, sondern auch dass dieser gleichermaßen psychologische Aufbauhilfe, Party-Vergnügen und spiritueller Freudenspender sein kann. Doch die Schlüsselgestalten, von Charley Patton bis Louis Jordan, sind wenig bekannt oder schwirren höchstens als Hit-Zitat durchs Hinterhirn der Menschheit. Neues, wie zuletzt ein Grammy für den wiederauferstandenen Rhythm'n'Soul-Crooner Solomon Burke, ist kaum zu berichten, außer vielleicht, dass das Blues-Schema regelmäßig in Pop-Hits von "Kiss" bis "Sexbomb" auftacht. Dabei sind die schwarzen Rock'n'Roll-Begründer alle noch am Leben: Chuck Berry, Little Richard, Bo Diddley, Fats Domino, und auch der anerkannte Soul-Vater Ray Charles. Wo sind die Rick Rubins oder Ry Cooders, die den alten Herren nochmal einen gescheiten Plattenvertrag verschaffen?
"The Blues are the roots, everything else are the fruits"
Willie Dixon
Rechtzeitig, bevor die letzten Dinosaurier ausgestorben sind, hat sich Martin Scorsese der Sache angenommen. Mit "The Blues" hat er eine Serie von Film-Dokumentationen produziert, die die nach wie vor unwiderstehliche "Knockin-on-the-backdoor-music" – nicht das schwäbische Kellergeklumpfe, sondern das echte Teufelszeug von Willie Dixon oder Tampa Red – wieder auf den Sockel stellt. Neben Scorsese selbst haben unter anderem Clint Eastwood, Mike Figgis und Wim Wenders Beiträge erstellt.
"Unser Ziel lag nie darin, das definitive Werk über den Blues zusammenzustellen" sagt Scorsese, "wir wollten sehr persönliche und eindrucksstarke Filme schaffen, sehr spezielle, auch sehr unterschiedliche Blicke auf den Blues." Darüber hinaus gab es im amerikanischen "Jahr des Blues" 2003 diverse Aktionen, Konzerte, Sampler-Veröffentlichungen, sowie die Bereitstellung einer Internetseite mit Blues-Classroom, Tonbeispielen und musikalischen Wanderkarten.
Der Italo-Amerikaner Scorsese, bisher bekannt für sein grandioses Gangster-Kino, ist nun plötzlich eine zentrale Figur in der Blues-Vermarktung geworden, ob aber sein Projekt nun die Missachtung Amerikas gegenüber dem eigenen Kulturerbe einebnet, sei dahingestellt. Es handelt sich bei "The Blues" um ein ehrbares, hochherziges Bildungsbürger-Projekt, das aber den Großteil – auch der schwarzen US-Bevölkerung – kaum erreichen dürfte. Uns kann es egal sein. In diesem Sommer startet in deutschen Kinos monatlich ein Blues-Film, und da gibt es für Fans und Skeptiker gleichermaßen was zu entdecken. Die Kino-Aufführung der weiteren Teile, wie Eastwoods "Piano Blues", ist allerdings noch nicht sicher, der Beitrag von Mike Figgis "Red, White and Blues" wird am Münchner Filmfest gezeigt.
"Now they talk about terror
Willie King
but what about poor me?
Ive been terrorized all my days"
"Feel like going home" (Starttermin 1. Juli ) heißt Scorseses eigener Regie-Beitrag, zu dem der launige Musik-Journalist Peter Guralnick das Drehbuch verfasst hat. Dazu wurden Archivaufnahmen treffsicher ausgewählt und Fossile wie Willie King oder Taj Mahal befragt. Oder Otha Turner, allerletzter Interpret der wahnwitzigen Fife'n'Drum-Kunst. Der junge Gitarrist Corey Harris begibt sich für den Film auf die musikalische Rückreise, zunächst zu verfallenen Hütten ins Mississippi-Delta, dann nach Afrika. Vom "Spirit" ist da viel die Rede, dem großer Ikonen wie Howlin Wolf oder Muddy Waters, und dem des "Mutterlandes". Und mehrere Theorien, was der Blues denn eigentlich sei, werden gesponnen, sowohl von toten, als auch von lebenden Musikern. Die weißen Zaungäste Scorsese und Guralnick hüten sich, eine der Thesen zu bestärken oder über Gebühr den latent esoterisch wabernden Spirit-Blödsinn zu zelebrieren.
Die respektvolle Distanz der Filmemacher macht "Feel like going home" zu einer diskreten, bestens fotografierten Hommage, zu 83 Minuten herzhaftem Musikunterricht. Die Eckdaten werden vermittelt, selbst die Klischees, etwa allerhand Geschwätz in der Afrika-Passage, werden mit Bedacht serviert. Der Film schaut sich in Ruhe an, wie und wo Musik entsteht, kleine Sessions auf abgetakelten Verandas, amerikanisch-afrikanische Duette oder Tanzpartys im hintersten Schuppen. Das Blues-Schema als Freundschaftscode.
Nach dieser Andacht folgt am 3. August mit "Lightning in a bottle" das Hochamt. Fast alle verbleibenden Blues-Größen (darunter die zwei womöglich besten Gitarristen des 20. Jahrhunderts, Buddy Guy und Gatemouth Brown) wurden da für ein großes Vermächtnis-Konzert zusammengerottet, zur glamourösen Prunkfeier mit B.B. King als umjubeltem Monarchen. Die mittlere Generation, vertreten durch Keb Mo und Robert Cray verneigt sich vor den Ahnen, der Nachwuchs, etwa Jon Spencer oder Macy Gray, versucht mitzuhalten und doch zeitgemäß zu bleiben, Bill Cosby übernimmt einen Statistenpart und sogar der schlappe John Foggerty wird niederintegriert.
Die rauschende Show wurde noch vor dem Irak-Krieg aufgezeichnet und enthält daher einige pazifistische Nebentöne. Rapper Chuck D. macht sich ein bisschen lächerlich beim Anti-Kriegs-"Boom Boom", das er von John Lee Hooker entliehen hat, und Solomon Burke, auch im Sitzen imposant wie immer, raunt lässig "Peace! No war!" ins Mikro. Die Stimmung bei den Liveaufnahmen, wenn etwa die ewig engagierte Folksängerin Odetta in Tränen ausbricht, erinnert mitunter an das "We shall overcome" der Sechziger und schürt beim europäischen Betrachter gern die Hoffnung, dass die alten Blueser auch auf "unserer", der liberaleren Seite stehen.
Die Bedeutung eines solchen Triumph-Konzertes dürfte für die USA jedoch weniger in der Tagespolitik liegen. "Wenn Du seinerzeit Blues gesungen hast, dann war das", erzählt B.B. King, "als ob Du doppelt schwarz warst." Heute erfährt Hip-Hop in den USA eine extreme Diskriminierung, und die Regierung Bush wendet das Land derart ins Reaktionäre, dass sich Roland Emmerich mit einem stinknormalen Actionfilm schon hochsubversiv vorkommt. "The day after tomorrow", als brisantes Kerry-Wahlkampfmaterial gefeiert, enthält unter anderem die tollkühne Szene, in der ein schwarzer Mann eine weiße Frau auf den Mund küsst – weiter ist auch Hollywood noch nicht gekommen.
Mit dem Vermächtnis-Konzert sowie mit der Filmreihe wurden nun Afro-Amerikaner geehrt, die trotz widrigster Umstände wie Armut und Rassentrennung stilbildende Kunst geschaffen haben und es nie oder kaum ins Prime-Time-Rampenlicht Amerikas geschafft haben. Etwa David "Honeyboy" Edwards, der in den Dreißigern mit Robert Johnson durch die Gegend gezogen ist. Oder Solomon Burke, der in den frühen Sechziger demütig für den Ku-Klux-Klan singen musste. Oder Buddy Guy, von dem die Hippies kaum was wollten, obwohl er das erklärte Idol von Jimi Hendrix war. Oder selbst B.B. King, den die Weißen bis zum Jahr '68 nicht mit dem Arsch angeschaut haben, weil sie in der Folk-Welle selbst bestimmen wollten, was authentischer Blues ist.
"The Blues" versucht also nachzubessern beim Verständnis der amerikanischen Musikgeschichte. Einzig "The Soul of a man" versagt bei dieser Aufgabenstellung. Der Film stammt von Wim Wenders und ist bereits im Mai angelaufen. Es geht darin um die Sänger-Gitarristen Blind Willie Johnson, Skip James und J.B.Lenoir, alle drei interessante, aber auch obskure Gestalten. Wenders hat dazu ein paar akademische Stilübungen, etwa Stummfilmpassagen, bemüht und angestrengte Neuinterpretationen von Nick Cave, Lucinda Williams oder Cassandra Wilson zugefügt. Wie schon beim "Buena Vista Social Club" fördert Wenders' Bebilderung den Groove keineswegs. Wie sollte sie auch: Wenders ist mit Bono befreundet und hat eine Doku über BAP gedreht – mehr muss man über "The Soul of a man" nicht wissen, um seinen Blues-Film versäumen zu wollen.
Der Filmemacher Richard Pearce indessen hat sich nicht nur auf die Suche gemacht, sondern auch wirklich was gefunden. Der nun, am 3. Juni, anlaufende "The Road to Memphis" erzählt vom musikalischen Knotenpunkt der USA, wo ehemalige Feldarbeiter wie Howlin Wolf oder B.B. King in den Fünfzigern ihre Karriere begonnen haben. Es ist beileibe keine Liebeserklärung an die Stadt Memphis, sondern ein bitterer Essay darüber, dass fast alles schief gelaufen ist: Der Blues wurde geklaut und zum weißen Rock'n'Roll umgewandelt, die schwarzen Vorbilder sind zumeist in der Versenkung verschwunden, und die Beale Street, einst Zentrum der afro-amerikanischen Subkultur, ist nach Opferung vieler Wohnblocks zur verneppten McBlues-Meile, zum Gitarristen-Streichelzoo, verkommen. Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte es noch geheißen: Wenn Du je für eine Samstagnacht schwarz warst in der Beale Street, dann wolltest du nie wieder weiß sein.
Roscoe Gordon, ein Sänger und Pianist, der es nie so ganz geschafft hat, gibt eine lakonische Stadtführung, wobei er dem Blues in Gestalt eines Reklame-Sängers begegnet. B.B.King, heute die imposante Gallions-Figur der Gattung, darf versonnen auf Felder schauen, auf denen er früher etliche Meilen pro Tag abgepflückt hat. Er weiß noch genau, an welchem Tag sein Publikum plötzlich weiß wurde. Der Sänger Bobby Rush indessen muss mit Anfang Sechzig immer noch bei niedrigem Budget die Ochsentour machen, den sogenannten "Chitlin Circuit" durch die schwarzen Clubs. Rush singt sich Abend für Abend die Seele aus dem Leib, markiert dabei den Sex-Gott und wird umrahmt von seltsamen Tänzerinnen, die durch virtuoses Arschwackeln die Stimmung anheizen. Diese Auftritte sind der größte Schauwert des Filmes, weit heftiger und vergnüglicher anzusehen als die gefälligen Darbietungen vieler seiner "entdeckten", aber gebändigten Kollegen. Doch Rush träumt vom weißen Publikum.
So zeigt "The Road to Memphis", dass die Stadt noch lange nicht fertig ist mit der Rassentrennung, auch wenn es seither vor allem weiße Fans, wie jetzt wieder Scorsese, Eastwood und Guralnick, waren, die den Blues am Leben erhalten haben. Ike Turner, der abgetakelte Ex-Mann von Tina, der wohl alle Karriere-Höhen und Tiefen erlebt hat, hat ein probates Mittel im Umgang mit diesem Zwiespalt. Für die Kamera unterhält er sich mit dem Elvis-Produzenten Sam Phillips, der noch immer leugnet, von der schwarzen Kultur den Rahm abgeschöpft zu haben. Phillips faselt, relativiert und leugnet, und Ike Turner lacht ihn einfach aus, schallend, fröhlich und unter Verweigerung jeglicher weiteren Diskussion: "I love you, man!"