Der Wunsch nach dem Ende der Pandemie

Eine Krankenschwester in einem Klinikum in Jakarta, Indonesia. Bild: Viki Mohamad / Unsplash Licence
US-Präsident Biden hat das Ende der Pandemie ausgerufen. Angesichts von explodierenden Preisen, Ukraine-Krieg und fossiler Energiekrise wollen viele von Covid-19 nichts mehr hören – verständlicherweise. Wo stehen wir aber wirklich?
Letzte Woche erklärte US-Präsident Joe Biden, dass "die Pandemie vorbei ist". In Deutschland ist man diesbezüglich verhaltener. Doch auch hierzulande werden die Stimmen lauter, die Normalität gegenüber dem Virus einfordern. So sagte der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag Tino Sorge gegenüber dem Spiegel:
Es wird Zeit, den Tunnel der Angst zu verlassen. Immer mehr Staaten kehren zurück zur Normalität. Bei aller nötigen Vorsicht: Der Ausnahmezustand darf nicht zum Dauerzustand werden. Auch unsere Bundesregierung wird den Menschen erklären müssen, wie lange wir uns noch im Pandemiemodus bewegen werden.
Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sieht Deutschland im "Übergang von der Pandemie zu Endemie". Weitere Schutzmaßnahmen seien nicht mehr notwendig.
Die "Pandemie-ist-vorbei"-Aussage vom US-Präsidenten ist politisch durchaus nachvollziehbar. Im November stehen die wichtigen Kongresswahlen in den USA an. Da ist die Versuchung groß, eine optimistische Botschaft aussenden zu wollen. Denn die Bevölkerung ist nach 2,5 Jahren Corona müde. So stellt der US-Epidemiologe Michael Osterholm gegenüber dem Online-Gesundheitsmagazin Stat fest, dass die Menschen "fertig mit der Pandemie" seien. "Sie wollen das hinter sich lassen."
Doch die Zahlen sprechen leider eine andere Sprache. COVID-19 hat in den Vereinigten Staaten im vergangenen Monat 13.000 Menschen getötet, während 2,2 Millionen neue Infektionen gemeldet wurden. In Deutschland ist die Inzidenz weiter auf einem hohen Niveau, allerdings hat die Zahl der Intensivpatienten abgenommen und ist nur noch halb so hoch wie zur selben Zeit im Vorjahr. Doch es werden weiter etwa 100 Todesfälle täglich gemeldet. In Deutschland starben in diesem Jahr bereits doppelt so viele Menschen an Covid-19 als im gesamten Jahr 2021.
In den ersten acht Monaten des Jahres 2022 verstarben weltweit mehr als eine Million Menschen an der Viruserkrankung, und die Zahl der direkt und indirekt durch die seit Ende 2019 andauernde Gesundheitskrise verursachten Todesfälle überstieg schon Anfang des Jahres die Zahl von 15 Millionen.
Eine Reihe von US-Medizinern und Gesundheitsexperten hat daher der Biden-Ansicht widersprochen, dass die Pandemie beendet sei. Vor allem Ärzte, die an der Basis täglich mit Corona-Infektionen zu tun haben, üben Kritik. "Ich bin zusammengezuckt, als der Präsident das gesagt hat", erklärt David Pate, ein Mediziner in Boise im Bundesstaat Idaho, der lange Direktor an der dortigen St. Luke-Klinik war. "Es ist nicht vorbei!"
Auch für Steven Thrasher, Autor von "The Viral Underclass: The Human Toll When Inequality and Disease Collide", steht fest: "Ich denke, es ist sehr verfrüht zu sagen, dass das Ende dieser Pandemie in Sicht ist". Und Yale-Epidemiologe Gregg Gonsalves twitterte:
Tut mir leid, Leute. Mr. Biden liegt völlig falsch. 500 Menschen sterben pro Tag. Die zweithäufigste Todesursache in den USA. Wir sind Spitzenreiter bei der Sterblichkeit unter den G7. Lebenserwartung sinkt. Er glaubt, das sei gute Politik. Das mag sein, aber es setzt voraus, dass er das Leiden von Millionen Amerikanern akzeptiert.
Die Medizin-Professorin von der University of California Monica Gandhi erläutert:
Was Präsident Biden und die Weltgesundheitsorganisation meinen (die WHO sagte letzte Woche, das Ende sei in Sicht) ist, dass COVID nie vorbei ist, weil das Virus nicht auszurotten ist, aber dass die Notfallphase endet, wenn die Sterblichkeit niedriger ist als jemals zuvor seit März 2020 und wenn wir biomedizinische Fortschritte haben.
Die Covid-19-Pandemie ist natürlich nicht auf die USA begrenzt, sondern eine globale Krise. Als grenzüberschreitendes Phänomen kann die Pandemie daher gar nicht von einem Land bzw. einem Regierungschef für beendet erklärt werden, auch nicht vom Präsidenten des mächtigsten Staats der Welt. Dafür ist die Weltgesundheitsorganisation WHO da, die das bisher nicht getan hat.
Und das hat seinen Grund: In der letzten Woche sind weltweit etwa 16.000 Menschen an COVID-19 gestorben, während etwa 2,5 Milliarden Menschen bisher nicht eine einzige Dosis eines Impfstoffs erhalten haben. Auch weisen Epidemiologen darauf hin, dass unklar ist, wie sich die Pandemie im Herbst und Winter entwickeln wird. Der Virologe Christian Drosten sagte im Interview mit der Süddeutschen Zeitung zum Beispiel, dass er mit einer starken Corona-Welle noch vor Dezember in Deutschland rechne. Eine Entwarnung hält er für voreilig.
Impfen hat Dutzenden Millionen Menschen das Leben gerettet
Aber es gibt durchaus auch positive Entwicklungen – das Abklingen der Sommerwelle zum Beispiel oder die Forschung an effektiveren Corona-Nasensprays –, die jedoch zunichtegemacht werden könnten, wenn die Länder zu früh auf Post-Pandemie-Modus umstellen und falsche Signale aussenden. Das hat der WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus mit seinen Worten auch zum Ausdruck bringen wollen:
Wir sind noch nicht so weit, aber das Ende ist in Sicht. Eine Marathonläuferin stoppt nicht, wenn die Ziellinie in Sicht ist. Sie rennt noch entschlossener, mit aller Energie, die sie noch in sich hat. Das müssen wir auch tun.
Wenn das nicht gemacht werde, drohten neue Virusvarianten, mehr Todesfälle und größere Unsicherheiten, so Tedros. Die Weltgesundheitsbehörde fordert daher die Staaten auf, beim Testen und vor allem beim Impfen nicht nachzulassen. Insbesondere Ältere und das Gesundheitspersonal sollten zu 100 Prozent geimpft sein.
Doch in vielen Ländern ist die Pandemie längst kein Thema mehr. Weder in den Medien, noch bei der Bevölkerung. Die Stichwörter "Covid", "Corona" und "Vaccine" wurden um die Jahreswende 2021/22 weltweit zehnmal so häufig gegoogelt wie zur Zeit, vermeldet die Deutsche Welle in einem Online-Bericht. Dort heißt es weiter:
Das international tätige Marktforschungsunternehmen IPSOS fragt seit August 2020 monatlich rund 20.000 Menschen in 27, seit August 2022 in 28 Ländern auf allen Kontinenten, welche drei von 18 möglichen Problemen sie mit der größten Besorgnis betrachten. Lange war COVID-19 die meistgenannte Antwort. Doch seit Jahresbeginn ist die Pandemie auf Rang neun von 18 zurückgefallen.
In den USA wird befürchtet, dass die Erklärung des US-Präsidenten Biden, die Pandemie sei vorbei, die Impfbereitschaft, die dort an sich schon gering ist (68 Prozent sind dort zweifach geimpft, 33 Prozent geboostert im Vergleich zu 76 und 62 Prozent in Deutschland), noch weiter absenken könnte.
Dabei wird das Impfen von Beratungsgremien weltweit als zentrales Element angesehen, um die Pandemie in eine Endemie zu transformieren und das Covid-19-Virus unter Kontrolle zu bekommen. So zeigen Studien, dass Impfen Corona-Infektionen eingedämmt und Krankheitsverläufe abmildert hat. Auf diese Weise sei das Leben von vielen Menschen in den letzten beiden Jahren gerettet worden. Eine Lancet-Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass in Folge der Impfungen Dutzende Millionen Menschen weltweit nicht gestorben sind.
Angesichts der neuen Booster-Impfstoffe, die mit der derzeit zirkulierenden COVID-19-Variante übereinstimmen könnten, zeigt sich Gesundheitsprofessor und Journalist Steven Trasher überrascht über die aktuelle Post-Pandemie-Diskussion:
Es könnte nichts Schlimmeres geben, die Menschen davon abzuhalten, sich impfen zu lassen, als zu sagen, dass die Pandemie vorbei ist und man sich keine Sorgen mehr machen müsste.
Und er fügt angesichts der Notwendigkeit, die Pandemie zu verlangsamen, hinzu:
Menschen können zudem Masken tragen, und Menschen sollten Masken tragen. Es gibt nichts Schwierigeres, die Menschen dazu zu bringen, als wenn der Präsident der Vereinigten Staaten sagt, dass es nicht mehr nötig ist, das zu tun.
Parallel zur Post-Pandemie-Debatte hält die Kommerzialisierung des Covid-Schutzes Einzug, was Schutzmaßnahmen weiter erschwert. Tests und Masken sind in vielen Ländern, auch in Deutschland, bereits seit einiger Zeit nicht mehr oder nur begrenzt kostenlos verfügbar.
Die US-Regierung hat bereits angekündigt, dass sie den Kauf und die Bereitstellung von Covid-19-Impfungen im Januar einstellen wird, sodass die Amerikaner die Impfstoffe über ihre Versicherer beziehen oder selbst bezahlen müssen. Begründung: Man habe kein Geld dafür. Und das, während dieselbe Regierung Waffen im Wert von Dutzenden Milliarden Dollar in den letzten Monaten an die Ukraine geliefert hat und die Inflation sich in die Geldbörsen der US-Amerikaner:innen frisst.
Wie gesagt, die Pandemie ist ein globales Phänomen und muss global gelöst werden. In einem Interview sagte der leitende WHO-Berater Bruce Aylward der Nachrichtenagentur Reuters:
Wenn ich sie sagen höre: "Nun, wir fühlen uns hier so wohl", dann denke ich: "Toll, jetzt könnt Ihr uns wirklich helfen, dem Rest der Welt zu helfen." Wenn Sie jetzt schlafen gehen und diese Welle uns in drei Monaten trifft ... Gott, dann klebt Blut an Euren Händen.
Aylward fordert die reichen Industriestaaten auf, sich inmitten der "akuten globale Notlage" nicht zurückzuziehen. Die beste Chance, die Pandemie zu stoppen, bestehe darin, Impfstoffe für alle und überall verfügbar zu machen, betonen auch Gesundheitsexperten in einem aktuellen Artikel in der Zeitschrift Lancet Infectious Diseases.
Die Pandemie mag in der medialen Öffentlichkeit, bei Politikern und in vielen Köpfen vorbei sein oder an Bedeutung verlieren. Der Wunsch nach ihrem Ende ist verständlich. Am Infektionsgeschehen und seinen Folgen ändert es nichts.